Rassismus

1. April 2011

Thilo Sarrazins „Überfremdungs“-Pamphlet „Deutschland schafft sich ab“ hat – sekundiert von Medien, die es in Rekordzeit zum Bestseller des Herbstes werden ließen – eine neue Runde in der Popularisierung von Rassismus und Sozialdarwinismus im öffentlichen Diskurs eingeleitet.

Zwar distanzierten sich wesentliche Teile der herrschenden Kreise schnell von seiner Rede von einem „jüdischen Gen“, kaum war jedoch diese Kritik geäußert, machten u. a. Klaus v. Dohnanyi und Horst Seehofer deutlich, dass durchaus die Opfer der sozialen Spaltung der Gesellschaft für ihre eigene Ausgrenzung in Haftung genommen werden sollen: als „Integrationsverweigerer“ aus „fremden Kulturkreisen“, die „unsere Sozialsysteme überproportional belasten“. Und auch die Kanzlerin ließ nach ihrer ersten Distanzierung wissen: „Multi-Kulti“ sei gescheitert.

Einen Monat später legte die Friedrich-Ebert-Stiftung die Studie „Die Mitte in der Krise – Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2010“ vor, die in der Tat eine beunruhigende Zunahme der Zustimmung zu nahezu allen abgefragten Dimensionen des sog. Rechtsextremismus in der „Mitte der Gesellschaft“ belegt:

– Gut jeder Vierte wünscht sich ein „starke Partei“, die die „Volksgemeinschaft insgesamt verkörpert“.

– Jeder Dritte wünscht „hartes und energisches Durchsetzen deutscher Interessen gegenüber dem Ausland“.

– 40 % fordern „Mut zu einem starken Nationalgefühl“.

– Durchgängig mehr als 30 % der Deutschen stimmen zu, dass „Ausländer kommen, um den Sozialstaat auszunutzen“, dass man sie bei knappen Arbeitsplätzen „wieder in ihre Heimat schicken“ solle, und dass Deutschland „in einem gefährlichen Maße überfremdet sei.

Diese erschreckenden Zustimmungswerte steigen noch einmal sprunghaft an, wenn es um das Feindbild „Muslime“ geht:

– 55,4 % der Befragten stimmen der Aussage „Araber sind mir unangenehm“ zu

und

– 58,4 % der Westdeutschen und 75,7 % der Ostdeutschen wollen die Religionsausübung für Muslime verbieten.

Aus diesem Reservoir schöpfen „PRO Köln“, „PRO NRW“, „PRO Deutschland“ oder die Berliner Partei, die sich widersinnigerweise „Freiheit“ nennt, Hoffnung auf Mobilisierungspotenzial und Wahlerfolge.

An diese Ressentiment-geladene Mitte knüpfen auch Faschisten an. Das Entscheidende ist allerdings, dass dieses Ressentiment immer wieder staatlich und Mainstream-medial reproduziert wird. Diskussionen über Deutschkurs- und Kita-Pflicht – wohl wissend, dass es für beides lange Wartelisten gibt – machen aus gesellschaftlich Ausgegrenzten Verantwortliche für die Spaltung der Gesellschaft, deren Opfer sie weitgehend sind. Die Aussage des Bundespräsidenten Wulff, der Islam gehöre zu Deutschland, erscheint angesichts der öffentlichen Reaktion führender Politiker fast wie ein Stichwort zum Widerspruch.

Menschen, die in Deutschland Schutz vor Verfolgung und Elend suchen, sind inzwischen völlig aus der öffentlichen Wahrnehmung in Lagern verschwunden, aus denen sie zwischen Asylantrag und Abschiebung kaum mehr herauskommen. Rechtlicher Beistand, Gesundheitsfürsorge und Zugang zu Bildung für Kinder werden auf diese Weise zu Privilegien, die den meisten Betroffenen vorenthalten bleiben. Es wird in nahezu alle Kriegs- und Krisengebiete der Welt abgeschoben. Deutschland spielte beim Zustandekommen der EU-Grenzsicherungsagentur FRONTEX, die die Flüchtlingsabwehr EU-weit koordiniert, eine tragende Rolle.

Seit 1999 ist die Bundesrepublik Deutschland ein Krieg führendes Land. Die Bomben, die den Zerfall der Bundesrepublik Jugoslawien beschleunigten, trugen mit dazu bei, dass fortan Roma und Sinti, die in Jugoslawien verhältnismäßig gut integriert waren, nun in den Nachfolgestaaten wieder diskriminierte und z. T. verfolgte Minderheiten wurden.

Diejenigen, die sich vor dem Krieg und der elenden Nachkriegssituation nach Deutschland retten konnten, sollen nun abgeschoben werden. Die im Asylverfahren übliche Argumentation: solange keine individuell nachgewiesen Gefahr für Leib und Leben droht, haben sie die für alle Angehörigen ihrer Gruppe geltenden Lebensbedingungen zu teilen.

In einer Diskussion um ein Bleiberecht für aktuell in Hamburg bedrohte Roma aus Serbien und Montenegro wurde dies kategorisch von dem zuständigen SPD-Vertreter abgelehnt mit der Begründung: Das ist in der Bevölkerung nicht vermittelbar.

Der herrschende Rassismus wird zum politischen Argument, dem man sich zu beugen habe. Und dies gilt nicht nur für die Kriegsflüchtlinge aus Jugoslawien, sondern auch für die EU-Bürger u. a. aus Bulgarien, Rumänien und Ungarn, die vor politischer und sozialer Entrechtung [fliehend] und teilweise um Leib und Leben fürchtend, nach Deutschland kommen.

In der Haltung, mit der ihnen diese Gesellschaft, staatliche Institutionen und BürgerInnen, entgegentritt, erkennen wir eine gefährliche Kontinuität des Antiziganismus, für den es 1945 keine Zäsur gab und dessen Opfer außer ihren eigenen Organisationen kaum eine Lobby haben.

Eine gefährliche Kontinuität hat auch das völkische Nationenverständnis in Deutschland aufzuweisen. Trotz Aufnahme von modernen Elementen des „jus soli“ in das Staatsangehörigkeitsgesetz von 1998 lebt das alte Blutsrecht fort: 10.000ende Menschen in den Nachbarländern haben als Angehörige der „deutschen Minderheit“ einen deutschen Pass bekommen. – Junge Polen konnten so ihre Wehrpflicht in die Bundeswehr verlegen. Mit dieser anti-modernen und an großdeutsche Mythen anknüpfende Rechtsgrundlage und Praxis ist die BRD Vorbild für entsprechende Gesetze und Politik in Ungarn und neuerdings Rumänien.

Rassismus ist ein konstitutiver Bestandteil der bürgerlichen Ideologie. Vom transatlantischen Sklavenhandel bis zu den Toten im Mittelmeer – alle Schätzungen gehen von mehreren 10.000 pro Jahr aus – zieht er eine lange Blutspur hinter sich her. In Verbindung mit dem Sozialdarwinismus bildet er eine Brücke zwischen Alltagsbewusstsein und dem faschistischen Konstrukt der „Volksgemeinschaft“, das die Deutschen reif gemacht hat für die Gefolgschaft und Komplizenschaft mit den faschistischen Menschheitsverbrechen.

Für uns heißt das, wir müssen diesem ideologischen Aspekt der Rechtsentwicklung in Staat und Gesellschaft mehr Bedeutung beimessen. Wir müssen in die Diskussion eingreifen und klar Position beziehen:

– Dem Grundgesetz ist Geltung zu verschaffen: Die Menschenwürde ist unantastbar! Die Freiheit des Glaubens ist unverletzlich.

– Integration und Ausgrenzung sind gesellschaftliche Prozesse, die politisch gesteuert werden. Opfer von Ausgrenzung als „Integrationsverweigerer“ zu stigmatisieren, ist zynisch.

– Gleicher Zugang zu Bildung und Ausbildung für alle!

– Mehr demokratische Teilhabe statt Demokratieabbau und Repression!

Wir suchen auf allen Organisationsebenen Partner und streben eine Kampagne gegen Rassismus und Islamophobie als Teil des Kampfes gegen die gesellschaftliche Rechtsentwicklung an.