Persönliche Erklärung vor dem Verwaltungsgericht Wiesbaden

geschrieben von Silvia Gingold

12. Januar 2017

Es ist jetzt mehr als 40 Jahre her, da ich schon einmal vor Gericht mein Grundrecht auf freie Meinungsäußerung einklagen musste. 1975 war ich aus dem Schuldienst entlassen worden auf der Grundlage von „Erkenntnissen“ des Landesamtes für Verfassungsschutz Hessen, die dieses Amt seit meinem 17.Lebensjahr über mich gesammelt hatte. Es waren Aktivitäten wie z.B. die Teilnahme an Demonstrationen gegen den Krieg in Vietnam oder mein Eintreten für gleiche Bildungschancen, die als Beleg für angeblich „verfassungsfeindliche“ Aktivitäten galten.

 

Dass ich heute – inzwischen  Rentnerin – immer noch oder wieder unter Beobachtung des „VS“ stehe und zwar ausschließlich wegen meiner antifaschistischen und friedenspolitischen Aktivitäten empfinde ich als Skandal. Ich bin in einer Familie aufgewachsen, die  Verfolgungen durch die Nazis ausgesetzt war. Nach Deutschland aus der Emigration zurückgekehrt, war meine Familie ab 1956 erneut Repressalien ausgesetzt: Hausdurchsuchung am Tag des KPD-Verbots, Entzug der deutschen Staatsangehörigkeit,  Bespitzelungen durch den „Verfassungsschutz“, – erst meine Eltern, dann auch ich –  Berufsverbot.

 

Schon vor 40 Jahren erklärte ich vor Gericht und tue es heute wieder: Meine Einstellung zur Hessischen Landesverfassung und zum Grundgesetz ist im Wesentlichen geprägt worden durch die Erfahrungen meiner Eltern. Sie haben sich im Kampf gegen den Faschismus für jene demokratischen Grundrechte eingesetzt, die im Grundgesetz und in der hessischen Verfassung ihren Niederschlag gefunden haben. Ihr leidenschaftlicher Kampfum diese Grundrechte ist die Schlussfolgerung aus den Erfahrungen mit dem ungeheuerlichen Menschheitsverbrechen des faschistischen Regimes auch an meiner Familie. Ein Teil meiner Familie wurde in den Gaskammern von Auschwitz ermordet. Meine Schwester, damals 2 jährig musste, um vor diesem drohenden Schicksal geschützt zu werden, bis zum Kriegsende versteckt und von meinen Eltern getrennt leben.

 

Mein Vater wurde von den Nazis verhaftet, schwer gefoltert und ist nur durch seine Flucht dem Tod entgangen. Können Sie sich unter diesem Hintergrund vorstellen, wie es sich für mich anfühlt, wenn ich heute wegen Lesungen aus der Biographie meines Vaters, wegen meines Einsatzes gegen Neonazis, gegen Ausländerhass und Rassismus, gegen Militarisierung, Waffenexporten und Kriegseinsätzen der Bundeswehr bespitzelt und als verfassungsfeindlich kriminalisiert werde?   Das Landesamt für Verfassungsschutz wirft mir vor: „Dabei setzt sie den aus ihrer Familiengeschichte resultierenden extremen öffentlichen Bekanntheitsgrad bei ihrer Zusammenarbeit mit extremistischen Gruppen ‚medien- und werbewirksam ein’“ Zu dieser – wie ich finde respektlosen und herabwürdigenden Einstellung gegenüber meinen Eltern –  sage ich: Ja, diese Erfahrungen meiner Eltern setze ich dafür ein, dass sich das, was sie erleben mussten, nie wiederholt. Schließlich waren es in erster Linie die Verfolgten, Zeugen der Naziverbrechen, die Gefolterten in den Konzentrationslagern, die Widerstandskämpfer, die dafür gesorgt haben, dass die Nazivergangenheit nicht in Vergessenheit geraten ist. Sie haben verhindert, dass ein Schlussstrich unter die Vergangenheit gezogen wurde, wie es viele nach 1945 am liebsten gehabt hätten. Mein politisches Engagement gilt diesem  Ansinnen der Zeitzeugen.

 

Besonders skandalös empfinde ich es, wenn der „Verfassungsschutz“ als Rechtfertigung für seine Beobachtung meine Aktivitäten für die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes- Bund der Antifaschisten (VVN-BdA) heranzieht. Es wird behauptet: „Bezüglich dieser Organisation liegen tatsächliche Anhaltspunkte für linksextremistische Bestrebungen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung vor.“ Mein Vater gehörte mit anderen Überlebenden der Konzentrationslager und des Widerstands in Hessen zu den Gründungsmitgliedern dieser antifaschistischen Organisation, deren Ziel es war und immer noch ist, die Erinnerungen an die Verbrechen der Nazis und den Widerstand gegen dieses Regime zu bewahren und die Wachsamkeit zu schärfen gegen alle Erscheinungen des Nationalismus, des Rassismus, des Antisemitismus und Militarismus. Zu den Grundaussagen der Organisation gehört der „Schwur von Buchenwald“ – gesprochen von den Überlebenden KZ-Häftlingen im April 1945. Selbst der US-Präsident Barack Obama würdigte bei seinem Besuch in der KZ-Gedenkstätte dieses Vermächtnis. Diesen Schwur von Buchenwald missbraucht das Landesamt für Verfassungsschutz als Beleg für  linksextremistische Bestrebungen der VVN.

 

In der Begründung des VS für die Nichtvorlage oder Schwärzungen von Akten heißt es u.a.: „Zudem handelt es sich um hochsensibles Aufkommen, da die Informationen aus persönlichen Gesprächen gewonnen wurden.“ Und an anderer Stelle: „Die in den Akten dokumentierten, hier nicht vorgelegten Erkenntnisse stammen aus nachrichtendienstlichen Erkenntnisquellen, die durch sachkundige Mitarbeiter des LfV überprüft und bewertet worden sind… Ihr Offenlegen im gegenständlichen Verwaltungsstreitverfahren würde Rückschlüsse auf die Art der Erkenntnisquellen zulassen, die zu Gefahren für Leib und Leben von Personen führen könnten…“ Können Sie sich vorstellen, wie es sich für mich anfühlt, wenn sich die Beobachtung meiner Person nicht nur auf öffentlich zugängliche Quellen stützt, sondern die Bespitzelung auch in persönlichen Gesprächen meines  Umfelds bis hin zum Ausspähen meiner e-mail- Korrespondenzen stattfindet, wie dies ebenfalls in der Sperrerklärung eingeräumt wird? Und wie es sich für mich anfühlt, wenn der Eindruck erweckt wird, es handle sich bei mir um eine gefährliche Person, die gar eine reale Bedrohung für Mitarbeitende des VS darstellt? Angesichts der tatsächlichen terroristischen Bedrohung  durch fremdenfeindliche und rassistische Gewalttaten, NSU-Morde oder Anschläge, wie auf den Weihnachtsmarkt in Berlin empört mich eine solche Unterstellung und macht mich fassungslos.

 

Ich erhoffe mir von diesem Verfahren, dass das Gericht die Rechtswidrigkeit der Beobachtung und Bespitzelung meiner Person durch den „Verfassungsschutz“ feststellt und die Löschung aller über mich gesammelten Daten anordnet. Ich erwarte dass Sie meinem durch die Verfassung geschützten Recht auf Meinungsfreiheit Geltung verschaffen.