NS-Geschichte im Netz – eine Live-Recherche

geschrieben von Liza Mikosch, Thomas Willms

7. Juni 2016

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Versetzen wir uns in die Situation eines eher jungen, vorzugsweise männlichen und unkritischen Deutschen, der sich rasch über NS-Geschichte informieren möchte. Er wird dies nicht tun, indem er in eine NS-Gedenkstätte eilt oder sich ein Buch aus der Bibliothek besorgt. Auch wird er kaum jemanden fragen, der diese Zeit erlebt hat, geschweige denn, dass derjenige selbst zu den Verfolgten gehört hätte. Vielmehr wird er sich an den Computer setzen und die Suchmaschine Google aufrufen und Suchbegriffe eingeben. „Google“ ist das Produkt eines Konzernes, dessen einziges Interesse nun einmal das Gewinnstreben ist. Die Suchmaschine wertet das Internet rein statistisch aus. Sie interessiert sich nicht für positive oder negative Wertungen und auch nicht dafür, was irgendeine staatliche Einrichtung, ein Museum oder die Wissenschaft zu einem Thema zu sagen hat.

Bundeskongress der VVN-BdA 2016 in Bochum

Thomas Willms, Liza Mikosch

Das „Ranking“, also die Frage, welche der Suchtreffer vorne stehen, entscheidet sich nicht nach deren Qualität, sondern nach dem Interesse, dass sie bereits erfahren haben bzw. nach nicht ganz durchsichtigen kommerziellen Interessen Googles. Was vorne steht, bleibt tendenziell auch vorne. Was Google zeigt, ist eine statistische Wahrheit: Was viele Hits aufweisen kann, ist das, was tatsächlich überwiegend rezipiert wird. Texte, Bilder, Videos und Shopping werden als gleichwertig von der Suchmaschine durchsucht und dargestellt. Die (kulturkonservative) Dominanz der Schrift und des Buches gibt es hier also nicht. Tendenziell werden die visuellen Elemente zahlreicher und stärker wahrgenommen.   Gibt der Nutzer, vielleicht aus einer vagen maskulinen Militärbegeisterung heraus, beispielsweise den Suchbegriff „Waffen-SS“ ein, findet er 872.000 Ergebnisse. Es gibt also eine so große Anzahl an Hits, dass ein systematisches Durcharbeiten von vorne nach hinten unmöglich ist. Je weiter man sich in der Liste vorarbeitet, desto unsicherer und fehlerhafter werden die Treffer. Es bleibt aber, dass hunderttausendfach Texte, Fotos und Videos produziert wurden, die sich in irgendeiner Weise mit „Waffen-SS“ beschäftigen oder sich darauf beziehen.   Der erste Treffer ist „wikipedia“. Die Nutzung von Wikipedia ist so weitverbreitet, die Artikel oft so nützlich, dass vielen gar nicht bewusst ist, wie diese Texte zustande kommen. Sie sind von unbekannten Freiwilligen mit unbekannter Motivation erstellte Produkte. Es gibt also, kein staatliches Komitee, kein Museum, keine didaktische Einrichtung oder dergleichen, die nach reiflicher Forschung und Überlegung referieren, was über „Waffen-SS“ hauptsächlich zu wissen sein sollte. Im Gegenteil ist der Artikel, und zwar in seiner tagesaktuellen Fassung, das Ergebnis des Ringens verschiedener unbekannter Autoren unbekannter Qualifikation. Das ist häufig kein Problem, bei politisch brisanten Themen allerdings schon! Bereits der zweite Treffer verweist auf die Kategorie „Bilder“. Man findet eine ungeheure Anzahl von Bildern, wo uns, aber nicht unbedingt dem gedachten Nutzer, bereits auf den ersten Blick klar ist, dass es sich nicht um Fotos mit kritischer Absicht handelt. Es fallen ins Auge:

  • Historische Werbeplakate für die Waffen-SS
  • Briefmarken
  • Historische Gemälde
  • Paraden
  • Ordensverleihungen
  • Fotos mit Waffen

All diese Fotos sind Nazi-Produkte mit dem Ziel der Huldigung und Heroisierung. Sie sind allesamt bereits „künstlich“, da für einen bestimmten Zweck kreiert worden, ohne dass dieser durch die Internetsuche benannt wird.   Auf den zweiten Blick fallen allerdings fällt eine zweite Gruppe von Fotos auf, die man pseudohistorisch nennen könnte:

  • „Stills“ aus Computerspielen
  • historisierende, tatsächlich aber aktuelle Inszenierungen
  • aktuelle pro-faschistische Huldigungen, z.B. aus Lettland
  • Werbung für Spielzeug, Büsten, Kleidung usw.

Geht man über zu den Ergebnissen in der Suchrubrik „Videos“, kommt man zur Plattform „youtube“. Auch sie ist offen für jedermann. Es ist kein von einem Rundfunkrat wie auch immer überwachtes Programm, sondern ein Markt von um Aufmerksamkeit buhlenden Anbietern. Als erstes fallen beim Suchbegriff „Waffen-SS“ dann allerdings doch Filme des öffentlich-rechtlichen Fernsehens auf. Die weitergehenden Hinweise, von der blinden künstlichen Intelligenz der youtube-Maschine errechnet, verweisen auf weitere Filme, die den Nutzer „interessieren“ könnten. Bereits im nächsten Schritt landet man bei Zeitzeugenvideos ehemaliger SS-Männer, die ihre Taten rechtfertigen und Schuld leugnen. Deren Aufrufzahlen gehen leicht in die Zehntausende.   Das Betrachten von youtube-Filmen ist kein reines Konsumieren mehr wie beim Fernsehen, sondern es gibt die Möglichkeit sich aktiv einzubringen:

  • durch Erstellen und Hochladen der Filme
  • durch Annahme fiktiver Identitäten (Avatare)
  • durch kommentieren und diskutieren
  • durch Geldverdienen

Als letztes betrachten wir die Rubrik „Shopping“. Hier trifft man auf eine große Anzahl von Produkten wie „Ärmelbänder der Waffen-SS“ für 9,52 €, Spielfiguren, Bücher, Uniformen usw. Die Werbetexte orientieren auf das „rein soldatische“ der Waffen-SS, ihren „Elite-Charakter“ usw. Es gibt sogar Anzeigen. Was kann man sich erhoffen, wenn man unter dem Schlagwort „Waffen-SS“ Werbung macht?   Zusammenfassend kann man feststellen:

  • Es gibt eine ungeheure Anzahl an Material.
  • Es ist ein Markt, es werden Ideen angeboten ebenso wie Waren.
  • Kritisches ist mit apologetischem auf Augenhöhe vermischt.
  • Die Angebote sind in der Mehrzahl apologetisch.
  • Einige, aber eher die Minderheit der Apologetiker, sind offen neonazistisch.
  • Es entkontextualisiert: Es geht um bestimmte Aspekte (z.B. Kleidung) ohne den historischen Zusammenhang.
  • Der Markt ist international.
  • Man kann als Nutzer etwas tun: kaufen, spielen, basteln, kommentieren.
  • An der prinzipiellen Offenheit des Systems wird sich nichts ändern, d.h. man muss sich darauf einstellen, dass alles genannte als Rahmenbedingung unsere Geschichtspolitik wesentlich bestimmen wird.

Es ändert sich an den Ergebnissen nicht einmal etwas, wenn man den Suchbegriff um „Verbrechen“ ergänzt. Was man erhält, sind weitgehend Materialien zum Thema „Verbrechen an der Waffen-SS“ nicht „von der Waffen-SS“. Der nicht in kritischer Nutzung des Internets geübte Nutzer bleibt leicht auf dieser Ebene stehen. Er wird nicht unbedingt dahin kommen zu bemerken, dass z.B. Werbeplakate der Waffen-SS von der Suchmaschine aus geschichtswissenschaftlichen oder pädagogischen Seiten herausgefiltert wurden. Erlebt hat er einen Tsunami an glorifizierenden Bildimpulsen. Wie viele der Nutzer werden sich ihm willig überlassen?