Zwei Tage in Riga, Sonne, Spazieren und Proteste gegen die Waffen-SS
23. März 2017
Ein Freiwilliger der VVN-BdA berichtet von der Reise nach Riga zu den Protesten am 16. März Lettland habe ich ständig verwechselt mit Litauen oder Estland und habe die drei Hauptstädte dem falschen Land zugeordnet. Ansonsten hatte ich einmal gehört, dass es irgendwo im Baltikum einen komischen Aufmarsch gibt, aber in Osteuropa passiert ja so einiges, weshalb ich dem Ganzen kaum je meine Aufmerksamkeit geschenkt habe. In diesem Jahr nun hat sich das geändert. Mit der VVN-BdA bin ich nach Riga gefahren und habe versucht, einige Worte Lettisch zu lernen. Dabei schien zunächst alles nicht so recht zu klappen. Ob wir überhaupt ins Land kommen würden, war bis zuletzt nicht sicher. Im letzten Jahr sind Kamerad*innen der VVN-BdA an einem deutschen Flughafen nicht ins Flugzeug nach Riga gelassen worden, weitere am Flughafen in Riga festgesetzt und einfach abgeschoben worden. In Lettland angekommen, erinnerten uns dicke Eisschollen auf einem Fluss an den Frost, der gerade erst einer frühlingshaften Wärme gewichen war. Die Sonne schien über einem strahlend blauen Himmel und ich hatte die Sonnenbrille vergessen. Durch waldige Landschaften mit Birken und Kiefern fuhren wir nach Riga.
Die Schatten der Geschichte waren gleichwohl präsent, wir fanden sie sogar, ohne sie gesucht zu haben. Am ersten Abend landeten wir in einer hübschen Kneipe, die von Student*innen hergerichtet worden war. Aufmerksam war sie dekoriert mit allerlei Nippes und militärischen Memorabilien von verschiedenen Armeen; und uns als Deutschen wurde eine Munitionskiste, die nun ein Tisch war, vorgeführt, auf der noch einige deutsche Worte entziffert werden konnten. Einen politischen Hintergrund schien all das nicht zu haben, aber mir kam es schon merkwürdig vor, dass junge Menschen einen gemütlichen Raum ausgerechnet militärisch dekorieren. Immerhin war auch ein Telephon eines sowjetischen Atom-U-Boots darunter. Auf dem Weg nach Riga passierten wir ein Mahnmal für die Opfer des Faschismus, scheinbar noch aus der Zeit der Sowjetunion. Im Wald fanden wir einen einfachen Friedhof mit einem Obelisken, dem oben der rote Stern abgesägt war und wahrscheinlich eine Tafel zur Ehrung der Roten Armee fehlte. Eine übrig gebliebene oder vielleicht auch neue Tafel erklärte, dass hier Tausende Menschen von den faschistischen Okkupanten ermordet worden waren. In Lettland gab es 1941 eine Art Interim. Die sowjetischen Truppen waren nach dem Überfall der deutschen Wehrmacht schon aus dem Baltikum abgezogen und die deutsche Verwaltung noch nicht fest installiert. In diesem Machtvakuum hatten die lettisch-nationalistischen Gruppen schon mit den Massenmorden begonnen. Im Juli 1941 starben in der größten Synagoge von Riga ungefähr 300 Juden. Lettische Nationalisten hatten sie in die Synagoge getrieben, die Türen mit Brettern vernagelt und anschließend das Gebäude in Brand gesteckt. Als später die Deutschen das Land fest im Griff hatten, wurden Teile dieser Gruppen in die Waffen-SS überführt und haben sich am Krieg gegen die UdSSR beteiligt, die vorher im Zuge des Hitler-Stalin-Paktes Lettland überfallen hatte. Eine Resistancé gab es gleichwohl in Lettland nicht. Das Land war ein wichtiger Durchgangspunkt für die Deportationen aus Deutschland in die osteuropäischen Vernichtungslager. 70.000 lettische Jüdinnen und Juden wurden ermordet. Diese Verbrechen wurden möglich durch die Beteiligung der lettischen Legionäre und sicherlich auch die weitgehende Kollaboration der Bevölkerung. Damals wie heute scheint der Hass auf „die Russen“ eine wichtige Rolle gespielt zu haben in einem kleinen Land, dass immer unter „Fremdherrschaft“ gestanden hat. Gleichwohl ist das ja nun kein Grund, Kriegsverbrechen vergessen zu wollen und die Waffen-SS zu ehren. Soweit mit der lettischen Geschichte vertraut, machten wir uns am Donnerstag, dem 16. März, auf den Weg in die Rigaer Innenstadt. Die wimmelte von Polizisten und zahlreichen Zivilpolizisten. Alle Demonstrationen von einheimischen Antifaschist*innen vor der zentral gelegenen Johanneskirche und entlang der Aufzugsroute waren verboten. Und keiner unserer Freundinnen und Freunde vom antifaschistischen Komitee Lettland hat es gewagt, dem zuwider zu handeln. Wir schon, denn als deutsche Staatsbürger*innen im Schengenraum und in der Europäischen Union genießen wir mehr Bürgerrechte als lettische Staatsbürger*innen, besonders solche mit ethnisch-russischem Hintergrund, die in Lettland den offiziellen Status von Bürger*innen zweiter Klasse haben. So fanden wir uns gegen halb elf Uhr auf dem sonnigen Platz vor der Johanneskirche in der Altstadt ein. Der Platz wimmelte von Journalist*innen in gelben Leuchtwesten. Polizisten standen in allen Nebenstraßen und einige Menschen erwarteten den Auszug der Waffen-SS´ler aus der Kirche mit Blumen. Darunter waren zu meiner Überraschung auch junge Frauen und Menschen, die nicht wie Neonazis aussahen. Manche trugen freilich die alten grünen lettischen Uniformen, jedoch nicht die Uniform der lettischen Waffen-SS. An einem Militärmantel war hingegen ein Nazi-Hakenkreuz deutlich erkennbar. Man imaginiert sich die Kollaboration mit Nazideutschland scheinbar als Freiheitskampf eines unabhängigen Lettlands.
An einem kleinen Stand, der scheinbar immer vor der Kirche steht, so auch an diesem Tag, gab es Wollmützen zu kaufen. Es gab verschiedene Muster und auch eine Mütze mit dem rechtwinkligen Nazi-Hakenkreuz. Später habe ich erfahren dürfen, dass das alte lettische Runen seien, die sich die Deutschen angeeignet hätten, und dass das Tragen solcher Mützen keine entsprechende politische Aussage sei. In solchen Momenten hatte ich das Gefühl, dass dieses Land schon sehr weit in die falsche Richtung abgebogen ist. Aber deshalb waren wir ja gekommen. Kurz vor dem Auszug aus der Kirche überlegten wir noch, wann der Moment gut wäre, unser Transparent auszurollen. Direkt vor der Johanneskirche, inmitten des erwartungsvollen Gewimmels, passierte es dann. Auf dem Transparent war auf Englisch und Lettisch zu lesen: „Eingedenk des Holocaust: Keine Ehrung der Waffen-SS!“ Schnell waren die ersten Journalisten da, noch vor der Polizei, und machten ihre Photos und Filmaufnahmen und umringten schließlich das Transparent und die beiden VVN-BdA´ler*innen. Die gaben Interviews und beantworteten Fragen der Reporter, auch noch während sie schließlich von der Polizei in eine Nebenstraße geleitet worden. Das Abführen vor der Polizei lieferte immerhin auch gute Bilder, und der Geschäftsführer der Berliner VVN-BdA, Markus Tervooren, erklärte lettischen Journalisten, warum er da war und warum der Umzug der Veteranen verkehrt ist. Die Journalisten waren sichtlich erstaunt, dass Gegendemonstrant*innen aus dem Ausland überhaupt vor Ort waren. Wussten sie von einem unausgesprochenen Einreiseverbot? Auch fanden sie es erklärungsbedürftig, dass wir uns in ihre lettischen Angelegenheiten einmischen, als ob sie da ein lokales Volksfest feiern würden.
Mein Gespräch mit einem Waffen-SS Veteranen verlief ganz anders. Dieser fühlte sich einerseits beleidigt ob der Aussage, dass die lettischen Legionäre für Kriegsverbrechen verantwortlich seien. Zugleich wollte er aber dennoch nicht ganz verantwortlich sein, und betonte, dass in einem Land unter Besatzung, also der deutschen, er eben zum Militär eingezogen worden wäre. Ich könne mir nicht vorstellen, was das heißt, ein Land unter Besatzung, betonte er. Ich muss sagen, dass der lettische Veteran, im Gegensatz zu den deutlich jüngeren Neonazis, einen zivilisierten und geradezu taktvollen Eindruck auf mich gemacht hat. Ich rief mir in Erinnerung, dass Hannah Ahrendt auch Adolf Eichmann derart beschrieben hat und mancher deutsche Kriegsverbrecher und selbst KZ-Wärter abends nach der Mordarbeit Schumann gespielt und Kleist gelesen hat. Gut möglich, dass dieser Lette an gar keinem Kriegsverbrechen beteiligt gewesen ist. Ich kann es nicht wissen und nicht nachprüfen. Aber durch sein Mitläufertum, besonders wenn er einer der Veteranen mit weißer Weste sein sollte, hat er geholfen, die wirklichen Mörder und Verbrecher zu entlasten. Das müsste er nicht tun, und wenn er mit 17 Jahren zur Waffen-SS eingezogen worden ist, hätte er sich immer noch später davon lossagen können und könnte es selbst heute noch. An diesem Donnerstag war ich auf jeden Fall froh, als wir uns beim Kaffee aufwärmten und den Tag gut überstanden hatten. Wir spazierten noch durch die Stadt und sonnten uns ein letztes Mal im kalten Norden Europas. Ich war froh, mit meinem deutschen Reisepass bald wieder abreisen zu können und konnte mir nun endlich entspannt noch einmal Riga anschauen, das sicherlich sehr reizvoll sein könnte.