Herausforderungen durch Militarisierung und Aufrüstung

geschrieben von Paul Schäfer

11. November 2025

Vortrag von Paul Schäfer, gehalten auf dem Außerordentlichen Bundeskongress der VVN-BdA in Stuttgart am 4./5. Oktober 2025

Liebe Freundinnen und Freunde,

Man sollte versuchen, in der Politik Begriffe aus der Pathologie zu vermeiden. Und doch fällt mir zu dem auf dem Juni-Gipfel  beschlossenen 5%-Aufrüstungsziel der NATO spontan nur eine Vokabel ein: Irrsinn.

Schon die Art und Weise, wie der Beschluss zustande gekommen ist, trägt irrationale Züge. Ein sich allmächtig dünkender US-Präsident fordert von den „Alliierten“ kategorisch, sie mögen diese Vorgabe gefälligst beschließen, Andernfalls würde er, der große Bruder, dem Bündnis den Schutz entziehen. Was folgt? Die europäischen Staatenlenker beeilen sich, dem Folge zu leisten. So viel zum Bündnis freier Nationen.

Trumps Vizepräsident, Mr. Vance, hatte vier Monate vor dem NATO-Gipfel auf der Münchner Sicherheitskonferenz erklärt, dass die EU weniger von Russland bedroht sei, als von ihrer Einwanderungspolitik. So viel zur Einschätzung der Bedrohungslage.

Aber wenn man in den Kategorien schierer Machtpolitik denkt, mag das 5%-Ziel durchaus Sinn ergeben:

Es ist gegen China als Hauptrivalen gerichtet, den man nach dem Muster des Kalten Krieges totrüsten will. Allerdings angesichts der wirtschaftlichen Stärke Pekings ein aberwitziges Unterfangen. 

Und natürlich wird die EU in der kapitalistischen Konkurrenz durch die exorbitante Steigerung der Rüstungslasten geschwächt. Die EU-Staatengemeinschaft hat weniger Mittel für zivile, nachhaltige Wirtschaftsentwicklung zur Verfügung, die man dort als Wettbewerbsvorteil ansieht. Aber die ökologische Transformation ist ja für Trump ohnehin nur Gift fürs Business.  Wenn dann auch noch die Kassen der US-Rüstungskonzerne klingeln, deren Waffen gekauft werden sollen, umso besser.

Schauen wir genauer hin:

Eine Erhöhung der Rüstungsausgaben bei den europäischen NATO-Mitgliedsstaaten pro Jahr auf 3,5 % des BIP würde eine Steigerung von jetzt 450 auf 750 Mrd. Euro  bedingen. Wozu noch einmal 320 Mrd. kommen, wenn wir bei 5% sind.

Für den Bundeshaushalt, der zwischen 2021 und 2024 bereits um 48% gestiegen ist und jetzt bei gut 82 Mrd. (inkl. Sondervermögen) steht, bedeutet dies eine Steigerung auf 152 Mrd. im Jahre 2029. Nota bene: Wir waren im Jahre 2014 bei 32 Mrd. Euro!

Aber schon das 3,5 Prozent ist rein willkürlich, durch kein plausibles Bedrohungsszenario belegt und mit Blick auf die wirklichen globalen Herausforderungen unverantwortlich. Mit spezifischen militärischen Bedrohungen hat das weniger zu tun, als mit dem Bestreben, die militärische Überlegenheit der NATO insgesamt und die Vormachtstellung der USA dauerhaft sichern zu wollen.

Herauskommt kommt dann eben ein Rüstungsprogramm, das alles umfasst:

  • die beträchtliche Erhöhung des Personalbestandes (Stichwort: Wehrdienst)
  • die Forcierung des rüstungstechnologischen Vorsprungs,
  • und die Bestellung neuer Waffensystem in allen Waffengattungen.

Es ist ein „Wünsch Dir was“-Programm für die Kommandeure der Bundeswehr. Das Geld muss ja raus.

Und viele Unternehmen aus den verschiedensten Branchen, von den Automobilkonzernen bis zum Trikotagenhersteller haben jetzt Blut geleckt und wollen am Rüstungsgeschäft teilhaben. Dabei haben sich die Ideen, mit einer Art Rüstungskeynesianismus das Wirtschaftswachstum kräftig und dauerhaft vorantreiben zu können, schon lange als Chimäre erwiesen. Mit Investitionen in Mittel der Zerstörung lässt sich nicht Nachhaltiges aufbauen – es bleibt eine Verschwendung des gesellschaftlichen Reichtums.

Die Zeitschrift Wissenschaft und Frieden, in deren Redaktion ich mitarbeite, hat in ihrem Heft 3/25 „Die neue Ära der Aufrüstung“ einige Beiträge zur aktuellen Militarisierung versammelt, deren Lektüre ich nur empfehlen kann.

Ich will hier nur drei Aspekte aufgreifen, die ich für besonders gefährlich halte:

a) die Vereinbarung zwischen US- und Bundesregierung, ab 2026/2027 neue konventionell bestückte Raketen größerer Reichweite hier zu stationieren.

Damit würden wieder sehr präzise Waffen bereit stehen, mit denen man präzise strategische Ziele in Russland über Moskau hinaus (also über die Pershing-Mittelstreckenraketen der 80er Jahre hinausgehend) angreifen kann. In der Abschreckungslogik gedacht, bedeutet dieser Schritt auch, dass man damit die Abwehrchancen der Gegenseite verringert, was die Risiken vorschneller Entscheidungen und von Missverständnissen erhöht. Das ist provokativ gegenüber Russland, erhöht die Gefahren nuklearen Wettrüstens und verstärkt den Druck, diese Waffen ggf. auch präemptiv einzusetzen. Der unselige NATO-Doppelbeschluss 1978 war wenigstens mit einer diplomatischen Initiative verknüpft. Man bot, wie ernst auch immer gemeint, Verhandlungen über eine beidseitige Abrüstung an. Dank Michael Gorbatschow passierte dies auch und dieser Raketentyp wurde in Europa verschrottet bzw. abgezogen. Dieses Mal hat man darauf verzichtet. Es wäre ein Minimum an sicherheitspolitischer Verantwortung gewesen. Wir werden also wieder aktiv werden und Widerstand leisten müssen.  

b) Die Bundeswehr plant in den nächsten Jahren 1.000 LEO 2 Kampfpanzer und 2.500 Boxer-Transportpanzer für ca. 25 Mrd. Euro zu beschaffen. Gemäß NATO-Kapazitätsanforderungen soll die Bundeswehr neben den geplanten zehn Panzerbrigaden noch weitere sieben aufstellen. Nun muss man kein Experte sein, um ermessen zu können, dass Panzer die Waffe für raumgreifende Operationen, sprich: Eroberungen sind. Warum bestellt die Nato insgesamt eine solch erkleckliche Summe an Panzern? Zumindest wird man dazu sagen können: Hier wird ein komplett falsches, gefährliches  Signal ausgesandt. Überdies stellt sich die Frage: Was soll das? Im Zermürbungskrieg in der Ukraine haben wir noch keine Panzerschlachten alten Stil gesehen. Das wird auch so bleiben.

Für die Profite von Rheinmetall u.a. ist das prima, dem Frieden dient es nicht.   

c) Der deutsche Griff nach der Atombombe galt bisher als tabu. Dies scheint in bestimmten Sicherheitskreisen Berlins nicht mehr zu gelten. Zumindest tun sich Scharfmacher hervor, die fordern, dass die Bundesrepublik zumindest beim Einsatz französischer A-Waffen mitreden und mitbestimmen solle. Fantasiert wird alternativ über eine als europäisch deklarierte Abschreckungsstrategie mit EU-eigenen Atomwaffen. Im Krieg gegen die Ukraine haben wir jetzt mehrfach russische Drohungen gehört, diese Terrorwaffe auch ggf. einsetzen zu wollen. Jetzt auf dieser Eskalationsleiter mitzugehen, läuft letztendlich darauf hinaus, das Risiko eines Großkrieges zumindest in Kauf nehmen zu wollen. Dabei lässt diese Entwicklung doch nur einen Schluss zu: Das Teufelszeug muss weg! Deutschland muss sich für den Vertrag über das Verbot von Atomwaffen stark machen.

Nun gibt es Stimmen auch im linken Lager, dass wir, diese Entwicklungen im Blick, am Vorabend eines Dritten Weltkrieges stünden. Mehr noch: Ein solcher Großkrieg würde nicht zuletzt vom „westlichen“ Militärbündnis geplant. Beidem ist entschieden zu widersprechen.

Die Sorge um die Gefährdungen des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit ist berechtigt. Aber allen weltpolitisch einflussreichen Akteuren ist bewusst, dass ein solcher Krieg das Ende unserer Zivilisation wäre und tunlichst vermieden werden muss.

Eines wird man mit großer Gewissheit sagen können: Die Panikmache, die wir heute in Teilen der Medien und im politischen Berlin erleben, ist völlig fehl am Platze und ihrerseits bedrohlich. Es geht stattdessen um eine  nüchterne Bedrohungsanalyse, es der besonnene Maßnahmen abgeleitet werden können.  Dies macht eine seriöse, von Greenpeace vorgelegte Studie zweier Sicherheitsexperten (Herbert Wulf/Christopher Steinmetz) deutlich. Darin wird gezeigt, dass allein die europäischen NATO-Staaten Russland in nahezu allen Bereichen deutlich überlegen sind. Das gilt für die Personalreserven wie die wichtigsten Waffenkategorien gleichermaßen.

Es trifft zu, dass Russland unter Putin ein atemberaubendes Tempo in der Rüstungsproduktion vorgelegt und die gesamte Wirtschaft dort auf den Krieg ausgerichtet hat. Ob man, wie westliche Quellen behaupten, inzwischen mit der NATO kräftemäßig gleichgezogen habe, darf bezweifelt werden. Für ein Angriffsszenario wäre auch dies völlig unzureichend. Und dass man das Aufrüstungstempo auf Dauer durchhalten kann, darf mit Blick auf die neueren Zahlen doch als unwahrscheinlich gelten. Darüber liest man gelegentlich auf den Wirtschaftsseiten der überregionalen Zeitungen. Zuletzt wurde immerhin über die wachsenden Schwierigkeiten des Putin-Regimes berichtet, die Versorgung der Bevölkerung im Energiebereich sicherzustellen, über die galoppierende Verschuldung etc. und über erste Protestaktionen. Es hängt allerdings viel davon ab, ob die ökonomischen Sanktionen aufrechterhalten oder gar verstärkt werden.

Es gibt aber noch weitere Indizien, mit denen die Gefahr eines russischen Angriffs auf die NATO realistisch und nüchtern beurteilt werden kann. Russland hat im jetzt bald vier Jahren dauernden Krieg hohe Verluste erlitten. Das betrifft die Zahl der getöteten und schwer verwundeten Soldaten und den Umfang der Zerstörung der großen Waffensysteme gleichermaßen. Waffen und Soldaten sind aus den westlichen Militärbezirken Russlands in die Ukraine verlegt worden, und wurden dort dezimiert, Sie müssten erst wieder ersetzt werden.

Russland kann den terroristischen Abnutzungs- und Zermürbungskrieges, v.a. durch den Einsatz von Drohnen gegen die ukrainische Infrastruktur und zivile Ziele, noch länger fortsetzen und das ist schlimm genug. Für einen Überfall auf NATO-Gebiet reicht es auf absehbare Zeit nicht. Leute mit Sachverstand sagen gerne: Wer angreifen will, muss deutlich überlegen sein. Das wiederum heißt: Putin ist kein angenehmer Zeitgenosse, ein Hasardeur ist er nicht. Natürlich stimmt es, dass einem die grobe Fehleinschätzung des Putin-Machtkartells zu Beginn der sog. Spezialoperation zu denken geben muss. Kann das noch einmal passieren? Die Inkompetenz der Nachrichtendienste hatte sich mit großrussischem Hochmut verbunden und dazu geführt, dass man die Eroberung Kijws in 24-Stunden erreichen wollte. Heute ist davon auszugehen, dass die russische Seite daraus gelernt hat.

Last not least wird in hiesigen Bedrohungsszenarien gerne komplett unterschlagen, in welchem Maße die NATO in den letzten Jahren bereits aufgerüstet hat. Die deutliche Stärkung des Bündnisses durch den Beitritt Schwedens und Finnlands wird bestenfalls als Fußnote berücksichtigt.

Und daher komme ich zu dem Schluss: 2029 wird kein Asteroid auf der Erde einschlagen und auch kein großflächiger russischer Angriff auf die NATO stattfinden. Rüstungswahn und unbegrenzte Militarisierung sind daher entschieden zurückzuweisen.

Wenn wir die hier aktuelle Aufrüstungsdynamik der NATO in den Blick nehmen, könnte die Frage aufkommen, ob hier auch auf der „westlichen Seite“ ein großer Krieg vorbereitet würde. Sprechen nicht die Angriffspotenziale, die man in der nahen Zukunft dafür aufbaut, dafür, dass hier Übles im Schilde geführt wird? Diese Annahme ist rein spekulativ und von keiner realistischen Analyse gedeckt.

Erstens gilt, dass sich eine saubere Unterscheidung von „defensiv“ und „offensiv“ bei den heutigen Waffensystemen nicht treffen lässt. Drohnen, Kampfflugzeuge, Raketen etc. können zur Abwehr wie zum Angriff eingesetzt werden. Die Anzahl der Waffen kann Hinweise geben; maßgeblich sind die Einsatzdoktrinen der jeweiligen Militärmacht.

Zweitens denken die Militärplaner und – strategen grundsätzlich in den Kategorien des schlimmsten Falles (was in gewisser Weise auch ihre Aufgabe ist) und wollen für alle Fälle gewappnet sein und Gegenmaßnahmen parat haben. Die Politik sollte dies zur Kenntnis nehmen, muss aber eigenständig die nötigen Schlüsse ziehen.

Drittens lässt sich die NATO in ihrer Einsatzdoktrin von dem Vorsatz leiten, auf allen Stufen einer kriegerischen Auseinandersetzung die „Eskalationsdominanz“ zu besitzen. Dies ist der maßgebliche treiber für die permanente Hochrüstung und für die Beschaffung immer wirkungsvollerer Vernichtungsinstrumente.

Aus diesen Faktoren lässt sich ein in Brüssel oder Washington geplanter Krieg aber mitnichten ableiten. Der Entscheidung zum Krieg gehen immer Kosten- Nutzenerwägungen voraus und die sind in diesem Fall eindeutig:

Warum sollte man das Risiko eines Großkrieges, der mit der Vernichtung eines Großteils der nördlichen Hemisphäre enden würde – und damit des eigenen Territoriums – enden würde, einkalkulieren?

Donald Trump will Geschäfte machen und Mark Rutte den Einfluss der westlich-kapitalistischen Staaten in der Welt mehren; suizidale Neigungen haben beide nicht.

Ein Blick auf die heutige Weltkarte und die dramatisch veränderten Kräfteverhältnisse genügt, um feststellen zu können: Einen Großkrieg, der das Entsetzen des überwiegenden Teils der Menschheit auslösen, den energischen Widerstand der aufstrebenden Staaten wie China, Indien, Indonesien und des Globalen Süden hervorrufen würde, kann niemand, selbst die Aktionäre von Rheinmetall nicht, wollen. Nur ein Beispiel: Die Industrieländer sind noch auf längere Zeit auf Rohstoffe aus China (Seltene Erden), Australien, Chile (Lithium) angewiesen, die gerade in den modernen Industriebranchen essentiell für technologischen Fortschritt sind. Warum sollte man sich dieses Geschäft kaputtmachen? Das wäre vollkommen sinnlos.    

Wenn wir dieses Szenario eines geplanten großen Krieges zwischen zwei Lagern, Atomwaffen inklusive, auf absehbare Zeit ausschließen, gibt das Grund zur Beruhigung nach dem Motto, es werde schon nichts passieren? Nein, diesen Grund gibt es nicht.

Ich bin nicht der Meinung, dass es keinerlei Bedrohungen gibt. An dieser Stelle müssten jetzt Erörterungen über die Umbrüche in der Weltgesellschaft, über Machtverschiebungen, über eine neue imperiale Ära, über ökologische Kipppunkte kommen, die allesamt besorgniserregen sind. Ich kann mich aus Zeitgründen nur auf wenige Punkte konzentrieren, der besonders kontrovers diskutiert werden und über die wir uns daher weiter Gedanken machen müssen.

Ich finde die Entwicklung in den USA hochgradig besorgniserregend. Mr. Trump will den geopolitischen Abwärtstrend der USA bracchial umkehren. Im Kern geht es um die Behauptung der USA als einziger Weltmacht – „Make America Great Again“

Völkerrecht, globales Regieren im Rahmen der UNO bedeuten ihm nichts. Multilaterales Handeln wird durch die Macht des Stärkeren ersetzt. Auch wenn Trump sich als Friedensfürst geriert: Mit Frieden und Abrüstung, mit gerechten Konfliktlösungen hat das nichts zu tun. Im Gegenteil. Sein Gaza-Friedensplan mag erst einmal zum Innehalten der Gewaltexzesse führen, die extreme humanitäre Notlage für die Palästinenser*innen lindern und vielleicht bessere Chancen für eine nachhaltige Perspektive des Zusammenlebens eröffnen. Der durchscheinende koloniale und imperiale Denkhorizont des US-Trumpschen Plans spricht jedenfalls dagegen, dass sich auf diesem Wege ein wirklicher und gerechter Frieden erreichen lässt.

Die Politik des Machtkartells um Trump verändert die internationalen Regeln und Normen grundlegend. Einseitige Vorteilsnahme durch Erpressung und Zwangsmittel ersetzt auf Zusammenarbeit orientierte Aushandlungsprozesse. Seine Deals drehen sich um die Ausbeutung fremder Ressourcen und darum, auswärtiges Kapital ins eigene Land zu ziehen. Der Bielefelder Sozialwissenschaftler Andreas Fisahn spricht vom „Vampirkapitalismus“.  

Im Inneren geht es ausschließlich darum, die eigene Macht zu sichern und die alten, halbwegs demokratischen Strukturen durch ein extrem autoritäres und reaktionäres Regime zu ersetzen.

Daher sind alle Überlegungen, wie sich parlamentarisch und rechtstaatlich verfasste Staaten, in denen es eine aktive Zivilgesellschaft gibt, diesem verhängnisvollen Trend nach rechts und den davon ausgehenden Prozessen der Entzivilisierung entgegenstellen können, äußerst relevant. In diesem Rahmen sind auch Vorstellungen über die künftige, eigenständige Rolle der EU beim Engagement für Frieden und nachhaltige Entwicklung zu erarbeiten und zu verbreiten.

Antifaschistische Sensibilität ist aber auch in der entgegengesetzten Himmelsrichtung gefragt. Kurz gesagt: Ich finde auch die Entwicklung Russlands unter Putin sehr  bedrohlich. Warum?

  • Putin hat seine Entschlossenheit dokumentiert, völkerrechtlich anerkannte Grenzen mit Waffengewalt zu verändern und erobertes Land zu annektieren.
  • Gerade die jüngste Entwicklung hat schlagend gezeigt, dass er die eigenständige Entwicklung des Nachbarstaates Ukraine nicht will und diesen in den eigenen Einflussbereich einfügen will.
  • Offenkundig reichen die imperialen Ambitionen aber weit über Belarus und die Ukraine hinaus. Sie orientieren sich am Herrschaftsbestand des alten Zarenreiches, das im 19. Jahrhundert zur führenden Macht in Osteuropa wurde.
  • Darauf gestützt möchte man den alten Weltmachtstatus wiederherstellen, quasi in der ersten Reihe sitzen. Dies mag man mit Blick auf die Größe des Landes, die Geschichte und den Status als Atommacht als normal ansehen. Das Problem liegt darin, dass dieser Anspruch durch die wirtschaftlichen und technologischen Kennziffern und die äußerst geringe Ausstrahlung dieses Gesellschaftsmodells in keiner Weise gedeckt ist. Diese Schwäche  muss durch militärische Stärke und skrupellose Machtpolitik substituiert werden Das macht die Lage so gefährlich.

Unter dem Strich: In den USA und in der Russischen Föderation können wir ultrarechte Entwicklungen beobachten, die nicht zuletzt deshalb besorgniserregend sind, weil dadurch – direkt und indirekt – die Rechtsdrift in vielen anderen Ländern gefördert wird.

Nun haben wir gewiss darüber zu diskutieren, ob dies schon Faschismus, ist, ein Faschismus in unserer Zeit? Folgt man Jason Stanley (Wie Faschismus funktioniert, Westend-Verlag 2025) so wird man doch viele Wirkmechanismen feststellen, die in den USA, Russland, aber auch in Ungarn und vielen anderen Ländern gegenwärtig am Werke sind. Ich bin, was solche Begriffe betrifft, vorsichtig. Dass es sich in diesen Ländern um Faschisierungsprozessen handelt, scheint mir evident.

Nun wisst ihr besser als andere, dass es einen Zusammenhang von Faschismus und Krieg gibt. Vielleicht sollte man ergänzen: Faschismus, Imperialismus und Krieg. Nur in Klammern: Interessant ist, dass Karl Marx den Begriff „Imperialismus“ verwandt hat – lange bevor es das „imperiale Zeitalter“ (E. Hobsbawm) gegeben hat. Er hat ihn in Beziehung gerückt zu „Bonapartismus“, also der Etablierung ultrareaktionärer Herrschaft unter dem zweiten Napoleon Bonaparte nach 1830, der versuchte, innere Krisen durch Aggressionen nach außen in den Griff zu bekommen. Mit historischen Analogien sollte man vorsichtig umgehen. Aber lehrreich können sie doch sein.

Warum spreche ich diesen Kontext an? Es ist nach meiner Überzeugung eine vordringliche Aufgabe, Antworten darauf zu finden, wie man diesen verhängnisvollen Trend abwenden und umkehren kann. Wir alle kennen den Satz, dass man den Anfängen wehren muss. Darüber sind wir wahrscheinlich schon hinaus. Gerade deshalb ist es so schwierig herauszufinden, wie man sich zu den heutigen gewaltförmigen Konflikten aufstellen soll, an welchen Punkten man ansetzen könnte usw.usf.. Das umfasst nicht zuletzt die Frage, ob man die antifaschistische Formel „No Pasaran“ auch und gerade auf Putins Politik anwenden kann, oder gar muss. Meine Haltung dazu ist klar. Ich will daher meine Überlegungen auf den Punkt des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine konzentrieren. Ich versuche in dieser Frage, die wir ja sehr kontrovers diskutieren, ein paar Denkanstöße formulieren. Nicht mehr und nicht weniger. Die Schwierigkeit besteht ja darin, dass es hier komplexe Ursache-Wirkungszusammenhänge gibt, und dass es nicht so einfach ist, Wirklichkeit und fake-news immer auseinanderzuhalten. Mehr noch: Wir sind mit einer Grundsatzfrage konfrontiert, ob es hier ohne Weiteres gelingt, unsere Grundwerte – antifaschistisch und friedlich –  zusammenzubringen, oder ob wir hier Widersprüche aushalten müssen.  

Für mich war es hilfreich, von einigen Grundprämissen und Leitgedanken auszugehen, um daraus eine stringente Position entwickeln zu können.

Erstens geht es um das Völkerrecht, das eine tragende Säule für die friedliche Koexistenz der Staatengemeinschaft ist. Daher sollte man alles was möglich ist tun, um seine Einhaltung durchzusetzen. Es wäre fatal, die schon seit längerer Zeit zu beobachtende Erosion des Rechts einfach hinzunehmen.

In diesem Fall: Die UN-Generalversammlung hat  mit großer Mehrheit beschlossen, dass die russischen Annexionen rechtswidrig sind und sich Russland zurückziehen muss. Alles andere würde darauf hinauskaufen, dass der  Bruch des Rechts noch belohnt würde. Mit dieser Forderung ist ein Wertmaßstab markiert, um dessen Umsetzung zumindest gekämpft werden muss. Ich habe aus diesem Grund auch keine Resolutionen unterstützt, in denen die Forderung nach dem Rückzug Russlands ausgelassen wurde.

Zweitens legitimiert die UN-Charta in Artikel 51, dass sich ein überfallenes Land verteidigen darf – ggf. auch mit Waffengewalt. Dass dies in der Charta aufgenommen worden ist, hatte gute Gründe. Alle Erfahrungen besagten, dass es Störer des Friedens gibt, die sich auch durch die Gewaltverbotsregel nicht abhalten lassen. Für diesen Fall galt es Regelungen zu treffen. Ich halte dies für konsequent und akzeptabel.  

Drittens: Die Ukraine hat davon Gebrauch gemacht und nun über  3 ½ Jahre einer militärischen Großmacht standgehalten und ihre Eigenständigkeit verteidigt.

Ich empfinde es als eine moralische und politische Pflicht, Opfern einer kriegerischen Aggression beizustehen. Notwehr und Nothilfe gehören zusammen. Dies kann ich nicht davon abhängig machen, ob mir die jeweilige Regierung eines angegriffenen Landes gefällt oder auch nicht.

Auch hier drängt sich ein interessanter historischer Vergleich auf: Karl Marx hat sich zeitlebens für die Wiederherstellung eines unabhängigen Staates Polen, das ja zwischen Großmächten aufgeteilt worden war, engagiert und versucht, diesen Programmpunkt in der Internationalen Arbeiterassoziation zu verankern. Dabei hat er besonders die imperiale Politik des Zarenreiches angeprangert und – auch interessant – England und Frankreich zu konsequenterem Handeln aufgefordert. Auch hier mag Vorsicht geboten sein. Zu weiterem Nachdenken anregend sind die Grundgedanken schon. Es ging darum, sich aktiv gegen imperialistische Expansionspolitik zu stellen und dabei ggf. auch Bündnisse mit eher parlamentarisch, republikanisch verfassten Staaten einzugehen.

Viertens: Wenn wir die Frage beantworten wollen, was es in diesem konkreten Fall bedeutet, solidarisch mit Aggressionsopfern sein zu wollen, dann wird man um Abwägungsproesse nicht herumkommen. Abzuwägen ist immer auch die Frage, ob solches Handeln realistisch, ob es verhältnismäßig ist und wie hoch der Preis ist, diesen Widerstand zu unterstützen. Das ist wiederum abzuwägen mit dem Preis, es nicht zu tun.

Darauf bezogen, bin ich zu dem Schluss gekommen: Auffassungen, wonach die Ukraine gefälligst die Vormachtbestrebungen Moskaus hätte akzeptieren, oder a priori kapitulieren sollen, sind für mich moralisch fragwürdig und friedenspolitisch falsch. Denn dann reden wir nicht mehr über eine Weltordnung, die von festen Regeln und normativen Prinzipien zusammengehalten wird, sondern über eine Welt in der die Starken diktieren und erpressen können. Wollen wir das?  Das Recht des Stärkeren, und das ist historisch belegt, führt zu mehr Kriegen, zu mehr Gewalt.

Ferner gilt: Man sollte diese Entscheidung nicht über die Köpfe der Betroffenen treffen, ebenso wenig wie man die Entscheidung über mögliche Friedensschlüsse einfach dekretieren kann. Linke sollten sich nicht neo- oder postkoloniale Denkweisen zu eigen machen.  

Auf die aktuelle Lage bezogen, könnte dies dennoch bedeuten: Nach gut drei Jahren Krieg, der auf Zermürbung ausgerichtet ist, und der unzureichenden internationalen Unterstützung der Ukraine, ist ziemlich klar geworden, dass eine Beendigung des Krieges für die Ukraine mit äußerst schmerzlichen Kompromissen verbunden sein wird. Dass sie Sicherheitsgarantien für ein durch russischen Landraub verkleinertes Land haben will, also „bis hierhin und nicht weiter“, sollte man verstehen. Auch darauf muss die deutsche/europäische Politik eine Antwort geben müssen; Wegducken hilft nicht.

Fünftens: Es sollte immer geprüft, mitbedacht werden, ob es Auswege aus einem Eskalationsszenario gibt und wie diese auf dem Verhandlungswege erreicht werden können. Und natürlich sind zivile, diplomatische Lösungen entschieden zu bevorzugen.

Ob es aber zu Verhandlungen und einem friedlich-schiedlichen Ende kommt, hängt immer von Voraussetzungen, sprich: auch Kräfteverhältnissen, ab. Für mich war dabei die Einsicht wesentlich: „Die Ukraine darf nicht verlieren, Russland nicht gewinnen“. Ansonsten – so meine Schlussfolgerung – wird es eben keine Basis für Verhandlungen geben. Darin fühle ich mich durch die letzten Entwicklungen bestätigt. Gegenwärtig sieht es danach aus, dass Putin nicht zu wirklichen Verhandlungen bereit ist, weil er hofft, das Blatt auf dem „Schlachtfeld“ zu wenden. Dies auch deshalb, weil aus seiner Sicht der äußere Druck zum Einlenken durch die Trump`sche Politik und die Entsolidarisierungsprozesse in Teilen der EU stark abgenommen hat. Warum sich also auf Teilerfolge einlassen, wenn man das Ganze gewinnen kann? Das heißt aber auch, dass bloße Friedensappelle schlicht nicht reichen werden. Die bittere Konsequenz ist: Erst die weitere, auch militärische Unterstützung der Ukraine, schafft die Voraussetzungen für eine Verhandlungslösung.

Sechstens: Nun mag man, was den Punkt der Waffenlieferungen betrifft zu recht unterschiedlichen Schlussfolgerungen kommen. Ich finde, dass über pazifistische Lösungsvorschläge immer nachgedacht werden muss. Kann gegen eine kriegerische Aktion und gegen ein Besatzungsregime eine sog. „soziale Verteidigung“ entwickelt werden, die zumindest längerfristig eine Wende erreichen kann? Welche Möglichkeiten,  zivilen Widerstand zu praktizieren gibt es konkret oder eben nicht?  Auch dafür gilt, dass man dies nicht über die Köpfe der betroffenen Menschen entscheiden kann.

Zusammengefasst: Die herrschende Politik kann nur in Kategorien der Abschreckung, der Konfrontation, des Unterwerfens denken. Friedenspolitisch wäre es jedoch geboten, Russland auch Angebote zu machen:  Aufhebung der Sanktionen, wirtschaftliche Zusammenarbeit v.a. im Bereich des ökologischen Umbaus, vertrauensbildende Maßnahmen und Rüstungsbegrenzungen unter dem Vorzeichen gemeinsamer Sicherheit. 

D.h. auch, dass wir der maßlosen Mobilmachung gegen Bedrohungen, die nicht konkret belegt sind, entgegentreten sollten. Nein zum 5%-Aufrüstungsziel der NATO! Einen neuerlichen Aufrüstungswahn können wir uns schon allein wegen der Klimakrise nicht leisten.

Aber wir werden nicht daran vorbei kommen, über eine Verteidigungspolitik nach Augenmaß gegen imperialistische Expansionspolitik nachzudenken, und Vorschläge zu machen, wie eine defensiv ausgerichtet Verteidigungsstrategie mit einer Friedens- und  Sicherheitspolitik verknüpft werden kann, die nach diplomatischen Auswegen aus Konfrontation und Eskalation sucht und die die Entwicklung stabiler Institutionen der Vertrauensbildung, des diplomatischen Dialogs und der Zusammenarbeit vorantreibt.

Schritte der Rüstungskontrolle und Entmilitarisierung gehören wieder auf die Tagesordnung. Wir wollen schließlich die Kriegslogiken durch eine Logik des Friedens ersetzen.