Geschichts- und gedenkpolitische Interventionen

1. April 2011

Menschenrechte, Zivilcourage und Widerstand im 21. Jahrhundert gründen sich auch auf das Wissen um die Ursachen, die zu Faschismus und Krieg führten, auf Kenntnisse von Widerstand und Verfolgung und auf das Wachhalten der Erinnerung an die Widerstandskämpfer und die Opfer.

Die Überlebenden, die Zeitzeugen haben viele Jahrzehnte mit ihrem Auftreten unserer Organisation viel Respekt und Anerkennung eingebracht. Es ist an uns, die Gedenk- und Erinnerungsarbeit zu weiterzuführen. Darin verkörpert sich Kompetenz und Einzigartigkeit unserer Organisation, an der wir auch von unseren Freunden und Kritikern gemessen werden.

Die großen Gedenkstätten bleiben in ihrer Um- und Neugestaltung als authentische Orte immer auch Friedhöfe, auf denen Überlebende, Angehörige und in übertragenem Sinne Familien, zu denen auch unsere Organisation gehört, um die Toten trauern. Gleichzeitig sind die Gedenkstätten Lernorte für kommende Generationen. Das Lernen wird sich, so sagen es Untersuchungen, weniger über Betroffenheit und moralische Appelle einstellen. Ausgangspunkt für historisches Lernen sind die heutigen Erfahrungen, die von den Gefährdungen der Gesellschaft, von Neonazis, dem Rassenhass, Antisemitismus, der völkisch fixierten Abgrenzung und Ausgrenzung der Fremden ausgehen und sollte im historischen Bezug das einschließen, was in dieser Welt und an diesem Lande zu verteidigen ist.

Oftmals vermissen wir in Ausstellungen und Publikationen Aussagen zu den gesellschaftlichen Ursachen, die Terror und Vernichtung hervorbrachten und dass die Lager auch Orte des Widerstands im Kampf um das Überleben waren.

Hier wird unsere Stimme benötigt, um diese authentischen Orte vor musealen Überformung und politischer Instrumentalisierung zu bewahren. Die Situation und unsere Einflussmöglichkeiten sind vor Ort sehr unterschiedlich. Unbestritten ist, dass künftig Vertreter, nicht alle sind VVN-Mitglieder, der LAGs und der Freundeskreise, in den Gremien Sitz und Stimme haben sollten. Sie sind legitime Vertreterinnen und Vertreter der Interessen und des politischen Erbes der Häftlinge, die oftmals diese Gedenkstätten begründet haben. Unser Verband sollte sie dabei besser unterstützen, diesen Anspruch wahrzunehmen. Dafür bedarf es einer engeren und vor allem kontinuierlichen Zusammenarbeit, einer inhaltlichen Begleitung und Vernetzung z. B. durch Schaffung eines gedenkpolitischen Ratschlages. Dieser sollte zugleich offen sein für andere Initiativen, die zweiten und dritten Generation einbeziehen und auch Gedenkstättenmitarbeiterinnen, die in der VVN organisiert sind oder ihr nahestehen. Dazu gehören auch andere Gruppen, die dazu arbeiten. Oftmals wissen wir zuwenig voneinander.

Zur Gedenkstättenpolitik ist Mitte Juni 2008 eine Positionsbeschreibung der VVN mit dem Titel „Erinnern – Gedenken Handeln“ entstanden, als wir uns im Bundesausschuss mit der Fortschreibung der Gedenkstättenkonzeption der Bundesregierung auseinandersetzten. (Das Papier ist mit den Konferenzmaterialien übergeben worden.) Die damals vorgeschlagene Verständigung mit den Lagerarbeitsgemeinschaften und Freundeskreisen, Vertretern der jüdischen Gemeinde, der Sinti und Roma und anderen Initiativen und Bündnispartnern hat noch nicht stattgefunden.

Dies wurde auch mit der „Einspruch“ Konferenz nicht eingelöst. Die inzwischen nachzulesenden kontroversen Beiträge zu den Gedenkstätten von Detlef Garbe, dem Leiter der Gedenkstätte Neuengamme, Rosel Vadehra-Jonas, Vertreterin der LAG Ravensbrück, Peter Fischer vom Zentralrat der Juden in Deutschland und des Vertreters des Zentralrates der Roma und Sinti wurden zum Ende vor dem sich langsam leerenden Saal auf dem Podium diskutiert. Der Standpunkt unseres Verbandes wurde leider nicht deutlich.

Darüber hinaus benötigen wir einen Austausch über die Perspektiven der zahlreichen regionalen Gedenkstätten, von denen viele auf Initiative von Mitgliedern der VVN entstanden sind. Beim letzten Bundeskongress saßen 40 Delegierte in einer Arbeitsgruppe und diskutierten Schwierigkeiten und Probleme der Gedenk- und Erinnerungsarbeit. Eine von allen erwartete Fortsetzung hat es nicht gegeben, sie ist aber unbedingt notwendig.

Die kleinen Gedenkstätten sind oftmals in ihrer Existenz gefährdet, leiden unter finanziellen Problemen und vor allem im Osten unter geschichtspolitischer Einflussnahme durch gleichsetzende Diktaturenvergleiche. Gleichzeitig entstehen nach Interventionen neue Orte, die an die Verbrechen des Faschismus erinnern. In Berlin wird z.B. eine Gedenkstätte in der Papestraße am 7. April eröffnet, wo seit Februar 1933 Hunderte Antifaschisten und Nazigegner in einer SA-Kaserne willkürlich weggesperrt, misshandelt und ermordet wurden. Hierfür hat sich seit 15 Jahren eine Initiative eingesetzt. Auf dem Flughafengelände Tempelhof befand sich bis 1936 das berüchtigte Berliner KZ Columbiahaus, das mit dem Ausbau des Flughafens abgerissen wurde. Über 2.000 Zwangsarbeiter leisteten in der dort nach 1939 angesiedelten Luftrüstungsindustrie Zwangsarbeit. Eine Initiative, in der wir mitarbeiten, setzt sich dafür ein, dass in der neuen Nutzung des Geländes das Gedenken an diese Zeit seinen gebührenden Platz einnehmen wird. 2013 jährt sich zum 80. Mal die Machtübertragung an die Hitler. Hier bieten sich Möglichkeiten, gemeinsam mit den Gewerkschaften, Parteien anderen Initiativen, den Sturz ins Dritte Reich, die Blutspur der Verfolgung und des Beginns des Widerstands aufzunehmen, aber auch zu verdeutlichen, wie es dazu kam.

Geht es auch um die Bewahrung, Wiederbelebung und das Beschreiten neuer Wege antifaschistischer Gedenkkultur mit Gedenk- und Erinnerungszeichen, Stolpersteinen, Mahnmalen, Straßennamen, Ausstellungen, Publikationen auch unter Nutzung neuer Medien. Außerdem benötigen wir auf der Homepage ein Forum, wo Ausstellungen, Publikationen, von uns getragene oder initiierte gedenk- und geschichtspolitische Initiativen gezeigt werden. Vielleicht können wir es mit dem vorgesehenen Antifa-Wiki verbinden.

Es entstanden seit dem letzten Bundeskongress neue geschichtspolitische Initiativen in den Ländern. Wir haben z.B. in Berlin eine Ausstellung zur Saefkow-Jacob-Bästlein-Widerstandsorganisation, erarbeitet und im Juni 2009 eröffnet. Grundlage war das 1996 von Ursel Hochmuth veröffentlichte Buch.

Die Ausstellung, Mitte April in der Gedenkstätte Ravensbrück gezeigt wird, kann ausgeliehen und der Katalog, er kann erworben werden, zeigen eine überraschende Vielfalt einer der größten deutschen Widerstandsorganisationen, über die es in der DDR lediglich eine Broschüre aus dem Jahre 1956 gab. 50 Stolpersteine wurden verlegt, eine Tagung durchgeführt, woraus ein Buch über den Arbeiterwiderstand entsteht, das im Herbst in der Roten Reihe des Dietz-Verlages erscheint.

In dem Antrag von NRW „Die Hinterbliebenen der NS-Opfer fordern ihr Recht“ geht es um die 2. Und 3. Generation. Ein wichtiges Thema. Wir bereiten im nächsten Jahr in Berlin eine Tagung zu „Kinder des Widerstands und second Generation“ unter Beteiligung einer englischen Gruppe vor. Auf Initiative von Angehörigen deutscher Antifaschisten, die aus dem sowjetischen Exil oftmals erst Mitte der fünfziger Jahren zurück kehrten, entstand ein Arbeitskreis zum Gedenken an die in der sowjetischen Emigration verfolgten, deportierten und ermordeten deutschen Antifaschisten bei der Berliner VVN-BdA. Die Tagung „Das verordnete Schweigen“ im Juni 2010 fand eine große Resonanz. Gleichzeitig fragten einige, ob dies ein Thema für die VVN ist. Wer, wenn nicht wir, sollten dieses Thema aufnehmen. Antifaschisten wurden Opfer eines beispiellosen Verbrechens, begangen im Namen des Kommunismus. Für die vielen Opfer gibt es kein Erinnerungszeichen. Jetzt sind wir mit dem Vorschlag an den Parteivorstand der LINKEN herangetreten, eine Gedenktafel für diese Menschen am Karl-Liebknecht-Haus anzubringen.

Weitere geschichts- und gedenkpolitische Interventionen sind notwendig. Die oftmals gegen viele Widerstände entstandene vielfältige Erinnerungskultur zu bewahren, manchmal zu beleben und gleichzeitig zu erweitern und erneuern ist eine zentrale Aufgabe unseres Vereinigung. Davon, wie wir sie meistern, hängt auch die Zukunft unseres Verbandes ab.

Obiger Beitrag nimmt Bezug auf das
folgende Positions- und Diskussionspapier
der VVN-BdA aus dem Jahr 2008:

Die Gedenkstätten leisten mit Ausstellungen, Führungen, Tagungen und der Betreuung von jährlich Millionen von Besuchern eine verdienstvolle und unverzichtbare Arbeit bei der Aufklärung über die Verbrechen des deutschen Faschismus. Ihre erfolgreiche Tätigkeit kommt in dem großen öffentlichen Interesse und der steigenden Zahl nicht nur deutscher Besucher zum Ausdruck. Wir treten dafür ein, dass die internationale Bedeutung der Gedenkstätten stärker betont wird, sie künftig ihrer Arbeit politisch unabhängig nachgehen und damit auch gesellschaftskritische Positionen wahrnehmen können. Die KZ-Gedenkstätten sollten in ihrer personellen Ausstattung und in ihren Investitionen zur Sicherung der baulichen Substanz den Haushalten von zeithistorischen Museen angeglichen werden.

Dem Gedenken und Erinnern an die NS-Zeit und der kritischen Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Ursachen für den Terror im Innern sowie für Holocaust, Völkermord und Vernichtungskrieg müssen eine klare Priorität eingeräumt werden. Die Dimension und Einmaligkeit nationalsozialistischer Verbrechen, insbesondere die Vernichtung der europäischen Juden und der Sinti und Roma sowie der Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion und andere Länder Osteuropas erfordern für die Zeit vor und nach 1945 getrennten Gedenkstättenkonzepte. Sie sollten das jeweilige historische Geschehen in seiner konkreten Entstehungsgeschichte, seinem zeithistorischen Kontext und seinen Ausformungen aufzuarbeiten vermögen.

Gedenken für die NS-Zeit darf nicht nur die Opfer im Blick haben, sondern muss die Verantwortung des Naziregimes und einer übergroßen Mehrheit der Deutschen für Verfolgung und Millionenfachen Mord benennen. Diese Verbrechen bleiben in der Menschheitsgeschichte singulär und sind von gesellschaftlichen Entwicklungen nach der Befreiung vom Faschismus eindeutig zu unterscheiden. Formulierungen von „Gedenkstätten mit doppelter Vergangenheit“ und „doppelter Diktaturgeschichte“ ebnen in unzulässiger Weise historische Unterschiede ein und setzen und konträre gesellschaftliche Entwicklungen vor und nach 1945 gleich.

Die KZ-Gedenkstätten sind Orte, in den Hunderttausende Menschen aus nahezu allen Ländern Europas inhaftiert waren, gequält und ermordet wurden. Die in internationalen Lagerarbeitsgemeinschaften organisierten Häftlinge haben in den Nachkriegsjahren, oftmals gegen den Widerstand von Politik und Öffentlichkeit, den Aufbau von Gedenkstätten initiiert und durchgesetzt, und ihren Ausbau (kritisch) begleitet. Diese Gremien, in denen (noch) Zeitzeugen, aber auch Angehörige von ehemals in den Lagern Inhaftierten, Historiker und andere der Erinnerung an die Verbrechen der NS-Zeit verpflichteter Menschen aus vielen Ländern engagiert mitarbeiten, sollten auch künftig in den Beratungsgremien der Gedenkstätten Sitz und Stimme haben und ihre Erfahrungen einbringen. Wir unterstützen die Kritik des Internationalen Sachsenhausen-Komitees und des Buchenwaldkomitees an dem Gedenkstättenkonzept der Bundesregierung aus dem Jahre 2007. Zugleich erwarten wir, dass die internationalen Häftlingskomitees, Lagerarbeitsgemeinschaften und Freundeskreise sowie Opferverbände wie z.B. der Bund der „Euthanasie“-Geschädigten, der Zentralrat der Juden wie auch der Sinti und Roma und der VVN-BdA bei den konzeptionellen Planungen und auch in den kommenden Generationswechsel mit einbezogen werden.

Gemessen an der hohen und weiter steigenden Besucherzahl und an dem Umstand, dass die Gedenkstätten ihre Arbeit künftig ohne Zeitzeugen leisten müssen, ist die personelle und materielle Ausstattung der Gedenkstätten unzureichend. Führungen und darüber hinausgehende pädagogische Angebote rücken mit dem weiteren Abstand zu den historischen Ereignissen und dem Fehlen von Zeitzeugen verstärkt in den Mittelpunkt der Bildungsarbeit. Diese und andere neue gesellschaftliche Entwicklungen (Migrationsgesellschaften etc.) müssen in stets neu zu erarbeitende Konzepte von Gedenkstättenpädagogik und politischer Bildung einfließen. Hierzu bedarf es eines qualifizierten Fachpersonals mit langfristig sicheren Arbeitsplätzen und muss daher Bestandteil der institutionellen Förderung sein. Gedenkstätten werden mit ihren internationalen Jugendbegegnungsstätten zu Orten des Lernens und der Begegnung – dem gilt es ebenso wie den allgemein wachsenden Besucherzahlen Rechnung zu tragen.

Die Lagerarbeitsgemeinschaften und die VVN verfügen über zahlreiche Quellen (Zeitzeugenberichte in Form von Text,- Film und Tondokumente), die auf neue Weise in die Bildungsarbeit mit einbezogen werden können. Darüber hinaus können Angehörige von Verfolgten des Naziregimes und Zeugen der Zeugen über ihre Begegnungen mit Zeitzeugen berichten.

Für eine lebendige und zu kritischem Denken befähigende Erinnerungskultur bleibt die Einbeziehung zivilgesellschaftlicher Initiativen für große und regionale Gedenkstätten unabdingbar. Gedenkstätten müssen sich in der regionalen Bildungslandschaft verankern und Kontakte sowohl zu schulischen und universitären wie auch außerschulischen Bildungsträgern aufbauen, pflegen und ausbauen. Sie müssen personell und konzeptionell in die Lager versetzt werden, ehrenamtliches Engagement in ihre Arbeit zu integrieren und zu unterstützen, sodass sie aktiver Teil zivilgesellschaftlicher, demokratischer Strukturen in einer Kommune, einem Land, der Gesellschaft werden.

Obwohl scheinbar ausreichend Literatur zur NS-Zeit sowie zur Geschichte der Konzentrationslager vorhanden ist, gibt es noch immer eklatante Forschungslücken, etwa bei der Beantwortung der Frage, wie „ganz normale Menschen“ unter bestimmten gesellschaftlichen Umständen zu schweigend Zustimmenden, Mitlaufenden oder gar aktiv Handelnden werden und am Ende Taten mit Millionen von Toten zu verantworten haben. Auch hier – im Bereich der Forschung – leisten Gedenkstätten Unverzichtbares. Ein forschungspolitischer Schlussstrich ist daher nicht hinzunehmen.

Wir fordern, dass alle Kernaufgaben der Gedenkstätten – ERINNERN, AUFKLÄREN, VERMITTELN, FORSCHEN sowie klassisch museale Aufgaben: SAMMELN, BEWAHREN, DARSTELLEN – durch institutionelle Förderung abgesichert werden, damit kontinuierlich eine qualifizierte Arbeit auf allen Ebenen gewährleistet ist. Nur mit einer uneingeschränkten öffentlichen Unterstützung und Absicherung können Gedenkstätten ihre erinnerungspolitischen Aufgaben wahrnehmen und ihren Aufklärungs- und Bildungsauftrag überzeugend umsetzen. Nur so können sie ein kritisches Geschichtsbewusstseins wie auch ein Verantwortungsbewusstsein für das Heute vermitteln und erfolgreich Mut machen, gegen Antisemitismus, Rassismus und Neonazismus und für eine Welt ohne Krieg und Faschismus einzutreten.

Allen Versuchen, das Gedenken zu verstaatlichen und es für eine nationale Identitätsbildung zu nutzen, treten wir entgegen.

Über Änderungen, Vorschläge und Meinungen freuen sich

Hans Coppi
Hannes Püschel
22. Juni 2008