Eröffnung der Schwerpunktdebatte

geschrieben von Prof. Kurt Pätzold

1. April 2011

Wer zur Eröffnung einer Diskussion sich einen Historiker einlädt, läuft Gefahr, dass von Geschichte die Rede sein wird …

Liebe Kameradinnen und Kameraden, Freunde und Genossen, Mitstreiter, Antifaschisten und Bürger.

Wer zur Eröffnung einer Diskussion, die der Selbstverständigung dienen soll – und so sehe ich meine Aufgabe -, sich einen Historiker einlädt, läuft Gefahr, dass von Geschichte die Rede sein wird und auf diesem Felde lauern Risiken, das Hineinstolpern und Sichverfangen in Fragen und auch in Zweifel. Nun müssen wir beim Blick in die Geschichte nicht in die Ferne schweifen. Unsere Organisation, die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes, der Bund der Antifaschisten, besitzt selbst eine, die uns Anstoß, womöglich Antrieb zu Nachdenklichkeit sein kann. Wir sind, wie man so sagt, in die Jahre gekommen, wir gehen – nimmt man nicht nur die Organisation im engeren Sinne, sondern, was rechtens, auch ihre Vorläufer hinzu – dem 100. entgegen. Dabei geht es uns wie Menschen vor Generationen, als noch niemand ihr Geburtsdatum, nicht einmal das Jahr ihres ersten Schritts ins Leben, festhielt.

Die Geschichte des Antifaschismus beginnt als deren Antipode mit der Geschichte des Aufkommens faschistischer Bewegungen und Organisationen in Italien und in Deutschland bald nach dem Ende des Weltkriegs, der später der Erste genannt werden musste. Als Antipode, das besagt: als unversöhnliche Gegenkraft. Ihre Existenz setzt nicht mit einem Kongress oder Manifest ein, sondern mit dem Widerstand und zwar einem geistigen ebenso wie einem politischen, durch das Widerwort und durch die abwehrende Tat. Und am Beginn einer Traditionslinie, in der wir unsere eigene Arbeit sehen, stehen aus der Geschichte Italiens die Namen des ermordeten Reformsozialisten Giacomo Mateotti, des Liberalen Giovanni Amendola, der an den Folgen eines faschistischen Attentats im Exil starb, des Kommunisten Antonio Gramsci, den eine lange Haft zugrunde richtete, und in Deutschland die Namen von Clara Zetkin mit ihrer denkwürdigen frühen, aus dem Jahre 1923 stammenden Analyse des Faschismus, des militanten Demokraten Carl von Ossietzky und vieler anderer. Sollten wir, um uns sogleich einer der angekündigten Fragen zu stellen, mit diesen Vorfahren nicht ein wenig öfter und eingehender beraten?

Nun leben wir auf dem Wege zu diesem 100. in einem Lande, in dem wir eine begriffliche Schwierigkeit haben, denn in ihm wird weder in der Geschichtswissenschaft (jedenfalls was ihren Hauptstrom anlangt) noch in der Publizistik das Wort Faschismus benutzt. Derlei hat es demnach in deutscher Geschichte nicht gegeben. Was sich dort vorfindet, wird allgemein, also auch bis in die Schulgeschichtsbücher, als Nationalsozialismus bezeichnet, sprachlich mit eben jenem Etikettenschwindel benannt, dessen sich die politischen Demagogen um Hitler, Goebbels und die anderen einst erfolgreich bedienten. Damit ist behauptet, dass es sich bei diesem „Nationalsozialismus“ um eine ganz besondere, einmalige europäische Erscheinung handelte, die keine wesentlichen Gemeinsamkeiten mit dem Faschismus in Italien oder in anderen Staaten aufwies. Und daraus folgt: Wo kein Faschismus existierte, war und ist es auch widersinnig, dessen Gegner als Antifaschisten zu bezeichnen. Sie waren demnach in einem Irrtum befangen und hätten sich richtig Antinationalsozialisten nennen müssen. So weit sind wir noch nicht, doch jedenfalls ist ein Zustand erreicht, da sich im Staate Bundesrepublik Deutschland Bürger, die in deutscher Geschichte von Faschismus sprechen, unter einen intellektuellen Rechtsfertigungszwang gestellt sehen. Obendrein werden sie als Linke ausgemacht und das heißt abgetan, ungeachtet der Tatsache, dass es auch politische Verfechter des Konservatismus gibt, die vom Faschismus in Deutschland sprechen. Es geht aber nicht um einen Begriffsstreit, der ist nur die Erscheinungsform einer tiefer reichenden Kontroverse. Sie betrifft nicht die Benennung, sondern das Wesen der Erscheinung.

Von ihr und ihrer Geschichte wird hierzulande fortgesetzt gehandelt. Das stützt auch den Anspruch, die Deutschen seien nicht nur auf den Feldern der Wirtschaft und des Sports führend, sondern auch auf dem Felde der Beschäftigung mit ihrer Geschichte, die hierzulande vorzugsweise Bewältigung heißt. Genau hingesehen, lässt sich allerdings ausmachen, dass diese Art der Bewältigung vorwiegend in der Beschreibung von Oberflächenerscheinungen besteht. Ungeheuerlichen, grausamen, historisch einmaligen – deren Vorführung Abscheu, Ekel, Widerwillen hervorruft. Das bewirkt die Serie von Spiel- und Dokumentarfilmen, die Woche für Woche von staatlichen wie privaten Fernsehsendern angeboten wird. Und das soll gering nicht geschätzt werden. Doch so wichtig Emotionen sind, was eigentlich ist von den Zuständen verstanden, die solche Erscheinungen, Verbrechen ohne geschichtliches Beispiel, hervorbrachten? Die Bewältiger der deutschen Geschichte haben sich zudem auf die filmische, fiktionale oder dokumentarische Darstellung des Endes des Naziregimes und seiner Folgen spezialisiert, auf den „Untergang“ im allgemeinen und den der „Gustloff“, auf „Stauffenberg“ und die „Flucht“, demnächst auf „Rommel“ (auch da auf dessen Ende). Was sich hier Bewältigung des dunkelsten Kapitels deutscher Geschichte nennt, blickt und beleuchtet Ereignisse, Vorkommnisse und Episoden der Jahre 1944 bis 1946, handelt also von den letzten Seiten dieses Kapitels. Gäben die ersten Seiten und das Vorwort zu diesem Kapitel keinen Stoff ab: der Hamburger Blutsonntag? Die Intrige, durch die Hitler in die Wilhelmstraße gelangte? Die Entdeckung des Treffen Hitlers und Papens in der Villa des Bankiers Schröder? Die Flucht Hans Beimlers aus dem KZ Dachau? Oder gar das Zustandekommen des Reichskonkordats zwischen der Hitler-Regierung und dem Vatikan?

Eine „Bewältigung“ des Faschismus, die eine Antwort auf die Frage schuldig bleibt, wie er in die deutsche und europäische Geschichte kam, warum er in einigen Staaten siegte und sich behaupten konnte, verdient diesen Namen allenfalls sehr eingeschränkt. Der Bund der Antifaschisten sieht sich in der Bundesrepublik folglich in einer Tradition, die viel älter ist als seine direkten Vorfahren, in jener der Aufklärung, die sich uns Deutschen vor allem mit dem Namen des Immanuel Kant verbindet, der den Ruf, in das Wesen der Dinge einzudringen mit dem Wissen verband, dass dazu Mut gehöre. Und, um wieder auf die Fragen zurückzukommen, wir haben zu prüfen, ob Aufklärung in unserer Arbeit den Platz einnimmt, der ihr im Ganzen zukommen sollte und ob wir die Inhalte dieser Aufklärung richtig bestimmen.

Faschismus ist im Deutschen ein mehrdeutiges Wort: es bezeichnet eine Organisation, Bewegung oder Partei, eine Ideologie und eine Staatsform, die faschistische Diktatur genannt wird. Und diese Diktatur ist eine der denkbaren, möglichen und verwirklichten Ausprägungen bürgerlicher Herrschaft. Das ist das Wesen der Sache und des Streits. Eine Ausprägung neben anderen: der konstitutionellen Monarchie, der parlamentarischen Republik oder auch dieser oder jener Form autokratischer Herrschaft. In welchen dieser Formen die bürgerliche Gesellschaft ihren staatlichen Rahmen findet, hängt nicht in erster Linie von Überzeugungen ab, wiewohl die beim Handeln von Menschen immer im Spiele sind, sondern davon, welche von ihnen den in der Gesellschaft dominierenden Interessen und deren Verfechtern dient, sie fördert und womöglich auch sichert. Als sich die Weimarer Republik, gemessen an diesen Anforderungen, als untauglich erwies, begann das Suchen nach Alternativen. Von den Suchenden wurde sie im Faschismus gefunden und durchgesetzt. Die dieses Resultat fürchteten, erwiesen sich als zu schwach, es zu verhindern. Es wäre wünschenswert, wenn das in deutschen Schulbüchern stünde. Womit wir bei einer weiteren Frage wären: Kümmern sich die Antifaschisten hierzulande hinreichend darum, was in jenen Büchern steht, mit denen die Heranwachsenden in den Schulen umgehen?

Nun werden Geschichtswissen und Geschichtsbewusstein nur zu einem schwer zu bemessenden Teil aus Büchern gewonnen. An seiner Bildung ist zu einem anderen Teil die Begegnung mit der Geschichte in öffentlichen Räumen beteiligt, im Alltag beim Gang durch Straßen und Plätzen, bei der Begegnung mit Denkmälern und Gedenktafeln, dem Besuch von Museen und Ausstellungen. Der Bund des Antifaschisten hat auf diesem Feld viel getan und sich Verdienste erworben, durch das Hervortreten mit eigenen Initiativen wie durch die Abwehr von ungerechtfertigten Demontagen solcher Erinnerungen und auch durch Einsprüche gegen den Missbrauch oder die Verzerrungen geschichtlicher Leistungen. Die Berliner leben nach wie vor in Straßen, die nach den „Helden“ des Ersten Weltkriegs benannt sind, aber sie haben die nach 1990 verübte Schande noch nicht beseitigt, dass die hinter diesem Gebäude der Humboldt-Universität verlaufende Straße unter Mitwirkung von Historikern, die sich als Demokraten verstanden, den Namen Clara Zetkin verlor zugunsten der Sophie Dorothea von Preußen, der Gemahlin des Soldatenkönigs. Dabei verlagern sich die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen auf ein scheinbar unpolitisches Feld. Wissenschaftliches oder technisches Verdienst wird als hinreichendes Äquivalent gewertet, das von politischer Haltung absehen lässt. So argumentieren in Sachsen die Verteidiger der Namengebung einer Schule nach Ferdinand Sauerbruch und in König Wusterhausen diejenigen, die einen Gewerbepark nach einer Erfinder im Zeppelinbau benannt wissen wollen, der im Ersten Weltkrieg mit seiner Firma Profit ausschließlich durch die Belieferung der kaiserlichen Armee verdiente.

Im Zentrum der Auseinandersetzung um das Gedenken in den öffentlichen Räumen stehen jene Antifaschisten, die Kommunisten waren. Die hätten nur für eine andere, nicht weniger grausame Diktatur gekämpft, weswegen sie im Grunde an einer falschen Front standen. Damit wird der unstreitig zahlreichste Teil des antifaschistischen Widerstands ausgegrenzt. Insofern betrifft die inszenierte dümmliche deutsche Debatte über den Kommunismus, der als eine Ausgeburt des Denkens und der Untat von Stalin und Pol Pot hingestellt wird, alle Antifaschisten, die Toten wie die Lebenden und die Kommenden. Die diese Art von geistiger Kommunistenjagd in Gang gesetzt haben und sie teils und am liebsten vom geistigen bereits wieder ins politische und in Sonderheit ins juristische Feld ausdehnen würden, spekulieren auf die inzwischen erzeugte Verdummung weitester Kreise, die sie als ihr Werk betrachten können. Machen wir uns an einem Beispiel klar, das hergeholt zu sein scheint, was in Deutschland 2011 möglich ist: Auf der Bühne des Renitenz-Theaters in Stuttgart streiten Komiker um die Verleihung des Goldenen Besens. In einem Duo nervt die Frau ihren Partner mit der Frage: „Wie hieß noch mal die Hitlerjugend von den Kommunisten?“ Das mochte – die Satire darf alles – als Bloßstellung von Dummheit gemeint sein. Was aber, wenn die Stuttgarter Zeitung die Frage im Fett- und Farbdruck in die Mitte ihres Berichts stellt und sie nicht als Ausfluss von Blödheit, sondern als „Halbwissen“ bezeichnet? Und um von der Kabarettbühne in die Schulwirklichkeit zu kommen: In Leipzig hat ein Schulmuseum eine Ausstellung auf Reisen geschickt, die Hitlerjugend und Freie Deutsche Jugend vergleicht, nicht in der Absicht ihrer Entgegensetzung, sondern ihrer Gleichsetzung. Die geschichtlichen Bündnisse von Antifaschisten haben Kommunisten, Sozialisten, Demokraten, Liberale zu gemeinsamer Aktion vereint, sie haben in ihren besten Zeiten und Daseinsweisen nicht gefragt, bist Du Christ oder Atheist, sie haben – den Hochmut gab es zeitweilig auch – nicht nach höheren oder niederen Stufen eines Antifaschismus unterschieden. Aber: Zu ihrem Miteinander gehörte die Achtung der Überzeugungen und auch des Glaubens des Anderen, zählte Toleranz. Daran könnten wir uns erinnern, wenn heute eine Verteufelung der Kommunisten oder auch die Beschimpfung der Kritiker der Regierungspolitik Israels als Judenfeinde vorgenommen wird.

Nun mögen uns – ich komme von den Fragen an die Geschichte in die Gegenwart – manche unserer Zeitgenossen als Überbleibsel aus dem vergangenen Jahrhundert ansehen. Um von mir zu reden, auf den ja der Verdacht auch als Person fallen könnte, ich habe mir, als ich mich fünfzehnjährig der antifaschistischen Jugend in Weimar anschloss und dort ein Schüler von Stefan Heymann, Kurt Goldstein und anderen Widerstandskämpfern wurde, nicht träumen lassen, dass wir es mit Faschisten – oder wie jetzt meist heißen Nazis oder auch Neonazis – im 21. Jahrhundert überhaupt noch zu tun haben würden. Idee und Praxis dieser Faschisten galt mir als so abgrundtief diskreditiert, dass ich nur an das Ab- und Ausräumen dachte, mir aber auch nur eine partielle Wieder- oder Neuinstallation nicht vorstellen konnte. Auch in diesem Punkte erwies sich, dass Irren menschlich ist und Voraussagen besonders Risiko behaftet. Was wir heute an faschistischen Losungen, Konstrukten und Aktivitäten antreffen, sind nicht mehr Überbleibsel des „klassischen“ Faschismus“, wie lange behauptet wurde, aber vor Jahrzehnten schon nicht richtig war. Gewiss beziehen die Nazis von heute auch Anleihen bei ihren Vorläufern, wobei dies aus mehreren Gründen für die problematisch ist, bedeutet es doch ein Stück Selbstentlarvung. Doch der Boden, auf dem sie agieren, ist der unserer jetzigen Gesellschaft. Auf deren Widersprüche beziehen sie sich und auf deren vorgebliche Lösung beziehen sie sich. Die Ideologen und Führer dieser Nazis wissen, dass es in dieser Gesellschaft ein Protestpotential gibt, Menschen, vor allem jüngere, die ohne Kenntnis gesellschaftlicher Zusammenhänge nach grundlegendem Wandel rufen. Darauf spekulieren sie. Daraus errechnen sie sich ihre Chancen. Wie ihre Vorgänger operieren sie mit einfachen Parolen. Während ihre Konkurrenz weitläufige Pläne zur Integration von Ausländern entwickelt, fordern sie: „Deutsche zuerst“. Um dieses Prinzip plausibel zu machen, brauchen sie nichts zu erfinden. Dass die deutschen immer vorn sein müssen, am besten auf Platz eines, wird denen von vielen beständig beigebracht. Beispielsweise in der Warenreklame: Kaufen Sie nur unser deutsches Motorenöl. Dann sichern sie deutsche Arbeitsplätze. Kurzum: Nationale Überheblichkeit, nationaler Egoismus, nationaler Hochmut sind keine Spezialität, geschweige denn ein Monopolbesitz der äußersten Rechten, der Nazis. Es ist kein Zufall, das Brechts Kinderhymne mit den Versen „Und nicht über und nicht unter / Andern Völkern wolln wir sein“ noch nicht zur Nationalhymne erhoben worden ist. Das wird wohl erst geschehen, wenn man keine mehr braucht.

Nun haben diese Nazis heute so wenig eine Chance, an das Staatsruder zu gelangen, wie Hitler und die Seinen im Jahre 1923. Warum ist das so? Weil die gegenwärtige bürgerliche Gesellschaft in ihrer derzeitigen politischen Organisationsform die Ansprüche der in ihr herrschenden und von ihr profitierenden Kreise befriedigt, mal weniger, mal mehr gut, in jedem Falle also gut. Hätte es dafür eines Beweises noch bedurft, ist sie durch die ökonomische Krise erbracht worden. Sie hat die verbreitete Vorstellung gestärkt, dass in dieser Verfassung die notwendigen Verbesserungs- und Reparaturarbeiten geleistet werden können, ein grundlegender Umbau überflüssig ist und nur Risiken und Unwägbarkeiten heraufbeschwören würde. Eben wird das Volk davon überzeugt, dass dies auch im Hinblick auf die Probleme der Fall ist, die auf dem Feld der Auseinandersetzung von Mensch und Natur entstanden sind. Hier geht es nicht allein um propagandistische Aushilfen und die Verbreitung der Vorstellung, die regierenden Politiker – heute die, morgen jene haben alles im Griff. Dazu dienen die Berufungen auf Leistungen bei der Krisenüberwindung ebenso wie die Versicherung, alle Gefahren, die aus „technischen Fortschritten“ hervorgehen können, vorsorglich abzuwenden oder doch zu minimieren. Verbreitet wird ein Geschichtsbild des 20. Jahrhunderts, das besagt: dieses Jahrhundert ist gekennzeichnet durch den Sieg über zwei die Menschheit bedrohende Diktaturen. Nun aber, an der Wende zum Einundzwanzigsten, hat jedenfalls der Teil der Menschheit, der Europa und Nordamerika bewohnt, mit der nun dominierenden Staatsform, der bürgerlich-parlamentarischen Demokratie in den Zustand gefunden, der Zukunft verheißt und der exportfähig ist und exportiert werden muss. Wir stehen bereit, allen zu helfen, die sich auf diesen Import einlassen wollen, wie wir das schon in Afghanistan und im Irak taten und tun.

Folglich: Faschisten in jeder Couleur – und so weit liegen sie farblich ohnehin nicht auseinander – werden akut und auf Sicht nicht benötigt. Daran schließen sich zwei Fragen: Warum, wenn sie doch eine Randerscheinung bleiben, lohnt es sich dann, ihnen überhaupt Aufmerksamkeit zu schenken und ihnen mit einem erheblichen Kräfteaufwand entgegenzutreten? Und: Warum lässt der Staat sie nicht nur gewähren, sondern begünstigt und sichert ihre Tätigkeit durch finanzielle Zuwendungen aus Steuergeldern und auch ihr öffentliches Treiben namentlich in den Städten? Die erste Frage betrifft unsere Organisation und alle Antifaschisten unmittelbar. Eine mitunter zu hörende Antwort darauf lautet: Weil sie, ähnlich der Hitlerpartei in den zwanziger Jahren, so etwas wie eine Herrschaftsreserve darstellen, auf die sich im Bedarfsfalle zurückgreifen lässt. Besieht man sich diese Reserve, mag man daran nicht recht glauben, selbst wenn man weiß, dass die Hitlerpartei in ihren frühen Anfängen ähnlich kläglich aussah. Doch geht es hier nicht in erster Linie um das Personal, seine Menge und Qualität. Noch scheinen die herkömmlichen Methoden der Herrschaftsstabilisierung bei weitem nicht ausgeschöpft, also die Beschneidung der demokratischen Rechte, die Anwendung von immer raffinierteren und zahlreicheren Mitteln der Manipulation und vor allem der Instrumente und Mechanismen der Erfolgsbestechung. Es geht nicht in erster Linie um eine Daseinsvorsorge für die bürgerliche Gesellschaft, sondern um die momentane Rolle dieser (neo)faschistischen Gruppen. Die wirken auf dreierlei Weise:

(1.) als ein Auffangbecken einer unzufriedenen Minderheit der Gesellschaft, wo bei diese Unzufriedenheit ihre Wurzel nicht nur im materiellen Bereich und in sozialer Benachteiligung hat. Die dort Aufgefangenen aber sind der Gesellschaft insgesamt ungefährlich. Sie sind dort vom Standpunkt der Herrschenden besser aufgehoben als in irgendwelchen Organisationen und Zusammenschlüssen der Linken, denn was sich da antibürgerliche und antikapitalistisch aufführt, ist so harmlos wie die Hitlerleute es waren, die mit ganz ähnlichen pseusorevolutionären Parolen operierten.

(2.) Die Existenz dieser verschiedensten rechtsextremen Zusammenrottungen bietet einen nicht zu unterschätzenden agitatorischen Vorteil. Mit dem Fingerzeig auf sie erscheinen die Stützen dieser bürgerlichen Zustände als die Kräfte und Parteien der Mitte. Sie grenzen sich von diesen mit Worten mehr ab, als sie in Wahrheit von manchen Positionen von NPD, DVU, Republikaner und den anderen Gruppen entfernt sind. Eine dieser Gruppen hat in Baden-Württemberg eben schlicht plakatiert: „Sarazin hat recht“ und der Mann ist Mitglied einer Partei geblieben, die sich zur linken Mitte zählt.

(3.) Die den Rechtsextremen eröffneten Möglichkeiten der Aktion stellen eine Herausforderung dar, sie beschäftigen die Antifaschisten, saugen deren Gegenkräfte gleichsam an und ergeben, dies ist ein weiterer manipulativer Vorteil, Bilder, die vom Kampf der Extremisten – das Wort ist ein Kampfbegriff gegen die Linken – zeugen sollen, wovon der Bürger sich am besten fernzuhalten hat. Es ist ein großer Fortschritt, dass diese Rechnung, wie Dresden jüngst bewies, nicht mehr immer und überall vollends aufgeht.

Kurzum: diese ungefährlichen Gegner von Demokratie und Republik stellen aus der Sicht der Herrschenden eine widersprüchliche Erscheinung dar. Sie bilden in gewissen Grenzen eine nützliche und entgegen ihrem Erscheinungsbild auch eine System erhaltende Kraft. Deswegen, denn das ergibt doch eine entfernte Wesensverwandtschaft, kann sich die unabhängige Justiz so schwer von ihnen trennen.

Wie immer aber man Rolle und Perspektiven der (Neo)Nazis einschätzt, es sollte für Menschen von republikanischer Gesinnung darauf allein nicht ankommen. Sich ihnen entgegenzustellen ergibt sich allein schon aus humanistischer Gesinnung und Gesittung, zu der noch immer ihre praktische Betätigung gehörte. Wir wollen auf unseren Straßen keine Leute sehen, die mit Parolen daherkommen wie (die vom Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe für strafrechtlich unbedenklich erklärte) „Ruhm und Ehre der Waffen-SS“, wir wollen diese Haufen nicht marschieren sehen, die auf ihrer Kleidung verkünden, dass sie über Leichen gehen, und die sich verlogen oder ahnungslos als „Patrioten“ deklarieren. Es sollte gelegentlich klargemacht werden, wohin wir mit derlei Auftritten geraten sind. Leute, die nach dem Ende des Krieges in Deutschland mit solchen Fahnen, mit solchen Parolen und so angetan sich öffentlich gezeigt hätten, wären wo auch immer von den Besatzungsmächten aus dem Verkehr gezogen worden. Jedes Mädchen und jeder Junge, der in die Fänge dieser National- und Rassenchauvinisten gerät, ist ein Opfer unserer Zeit und unserer Untätigkeit oder Gleichgültigkeit. Damit sind zwei Adressaten antifaschistischer Arbeit und Appelle bezeichnet: die Richter- und die Lehrerschaft dieses Landes.

Antifaschismus – das war seit seinen Anfängen immer auch Bekenntnis und Tat für den Frieden zwischen den Staaten und Völkern. Die mit Mussolini, der zu den Treibern für Italiens Kriegseintritt 1915 gehörte, 1922 in der ersten Reihe auf Rom marschierten, waren dekorierte Kriegshelden, und die sich ihnen entgegenstellten waren Friedensfreunde. Nicht anders in den Anfängen der Hitlerpartei, der „Führer“, der Generalstabsoffizier Ernst Röhm, der aufgrund seiner Kriegstaten zum Ritter erhobene Oberst Franz von Epp, der Leutnant in der bayerischen Jagdfliegerstaffel Rudolf Heß, der Pour-le-Merite geschmückte Jagdflieger Hermann Göring, der Oberleutnant Gregor Strasser, der Oberleutnant Joachim von Ribbentrop, der Leutnant Julius Streicher bis hinunter zum zu spät gekommenen Offiziersanwärter Himmler, sie alle rühmten sich ihrer Kriegsuntaten. Im Grunde genügte die Kenntnis der Biographien dieser politischen Rotte, um zu wissen, dass man es mit einer Kriegspartei zu tun hatte.

1945 wurde weithin geglaubt, dass die Deutschen diese Sorte von Politikern ein für alle Mal verabschieden und also los sein würden. Inzwischen führt Deutschland Krieg in Asien und wünscht den verbündeten Kriegern, die in diesen Tagen in Nordafrika ihre überlegene Vernichtungstechnik skrupellos einsetzen, besten Erfolg. Das Bedrückende ist, dass die Deutschen an diese Teilnahme gewöhnt werden. Täusche sich niemand über die bekannten Zahlen über die Ablehnung des Krieges in Afghanistan. Das sind meist harm- und also wirkungslose Erklärungen, die bei Telefonbefragungen ermittelt werden. In Wahrheit ist den Menschen ein neues, hinnehmbares Kriegsbild entstanden: der Krieg ist – erstens – fern, er erfordert – zweitens – weniger eigener Tote als in der „Heimat“ bei Verkehrsunfällen umkommen, von ihm wird – drittens – hinhaltend gesagt, er werde bald enden und – viertens und vor allem – ist er kein Krieg gegen einen Staat oder ein Volk, sondern gegen hinterhältige und mörderische Terroristen an der Seite von Ordnungskräften der jeweiligen Länder, die an die Macht gebracht oder an ihr gehalten werden müssten. Dass die Deutschen mit der Mehrheit der Europäer die Politiker und Militärs der NATO in diesen Tagen gewähren lassen, dass sich in zweifelsfrei demokratisch gewählten Parlamenten kein einziger Abgeordneter findet, der Nein sagt, macht erschrecken, darf aber nicht zu einer Schreckstarre führen. Es ist darüber zu reden, wie heute Reklame für Kriege gemacht wird, subtiler als seinerzeit mit Phrasen vom Kampf gegen den Bolschewismus und das internationale Judentum, und auch nicht mit dem völlig gleichen Ziel, es muss nicht Gefolgschaft sein, Gleichgültigkeit und Hinnahme genügen.

Lasst mich, Kameradinnen und Kameraden, mit einem persönlichen Wort schließen. Meine erste Rede auf einem Kongress der Antifaschisten hielt ich im Dezember 1945 auf einer Tagung der antifaschistischen Jugend Thüringens in Gera. Kurt Goldstein war ihr Initiator. Das war eine spontane Intervention nach einer Rede, in der ein Pfarrer die evangelischen Kirchen als eine antinazistische Kraft schön geredet hatte. Dies heute ist nun meine zweite Rede auf einer solchen Zusammenkunft. Damals war es – trotz alledem – leichter Optimist zu sein. Aber wie damals kann auch heute Zuversicht nur kämpfend erworben werden. Es mögen uns unter dem Eindruck historischer Erfahrungen und Perspektiven die Worte des englischen Dichters und Teilnehmers am Freiheitskampf der Griechen George Gordon Byrons, wonach der einmal begonnene Freiheitskampf immer, wenn auch schwer, gewonnen wird, uneingeschränkt nicht mehr gelten. Näher mag uns heute Ulrich Huttens vielfach missbrauchtes Bekenntnis „Ich habs gewagt mit Sinnen“ sein. Also. Lasst es uns weiter versuchen.

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