Die Früchte des 8. Mai sind gefährdet

geschrieben von Dr. Axel Holz

11. Mai 2015

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Rede zum 70. Jahrestag der Befreiung vom Faschismus Sowjetisches Ehrenmal in Berlin, Treptower Park, 8. Mai 2015

 

 

Am 8. Mai wurde ganz Europa von der Geißel des Faschismus befreit. In Deutschland erlebten in erster Linie die überlebenden Verfolgten und Widerstandskämpfer_innen diesen Tag als Befreiung, aber auch Millionen Zwangsarbeiter_innen aus zahlreichen Ländern Europas. Auch wir heutigen Menschen in Europa verdanken den Siegern des 8. Mai die Grundlagen unseres Lebens in Frieden, Freiheit und Vielfalt. Die alliierten Streitkräfte, unter denen die Rote Armee mit Abstand die größte Last des Krieges in Europa zu tragen hatte, sind und bleiben auch unsere Befreier. Mit besonderer Dankbarkeit erinnern wir an den Beitrag, den der deutsche antifaschistische Widerstand in Deutschland, in der Emigration, als Teil von Partisanenverbänden und in den Streitkräften der Anti-Hitler-Koalition geleistet hat.

 

 

Es bleibt zugleich eine Tatsache, dass die Deutschen nicht dazu fähig waren, sich selbst von der Nazityrannei zu befreien. Die Mehrheit der Deutschen hat das Ende der Nazi-Herrschaft dennoch als eine Befreiung vom Kriegsalltag, als das Ende von Not und Zerstörung erfahren. Auf unterschiedliche Art und Weise setzten sich Deutsche in Ost und West mit der Nazi-Ideologie auseinander. In diesem Prozess ist eine starke Zivilgesellschaft entstanden, die bereit ist, sich Nationalismus und Rassismus aktiv entgegenzustellen, der sich in Deutschland und Europa erneut breit macht.

 

 

Erinnert werden muss aber auch an die jahrzehntelange Verdrängung der deutschen Schuld an Eroberungskrieg und Völkermord in der BRD und an die bedenkenlose Übernahme ehemaliger Nazis in führende Positionen der westdeutschen Politik, Wirtschaft und Polizei, in Militär, Geheimdienste und Gerichte. Erst in jüngster Zeit wurde dieses Versagen beim Umgang mit dem Nazi-Erbe in zahlreichen Behörden wissenschaftlich aufgeklärt. Ich halte es für bemerkenswert, dass der Präsident des Europäischen Parlaments, Martin Schulz, auf dem Europäischen Gedenktag am 11. April in Weimar auch an dieses jahrzehntelange Versagen erinnert hat.     Mehr als 55 Millionen Menschen fielen Nazi-Terror, Holocaust und Vernichtungskrieg zum Opfer. Sie bezahlten den deutschen Griff nach der Weltherrschaft mit unvorstellbarem Leid und mit ihrem Leben. Einflussreiche politische Kreise, Banker und Industrielle hatten schon ab 1930 keine Bedenken, den Nazis die Macht zu übertragen. Vielmehr ermunterten Sie die Nazis, die Arbeiterbewegung zu zerschlagen und deren Ideen zu bekämpfen. Das belegt ein Brief von einflussreichen Bankern und Industriellen aus dem Jahre 1932 an Reichskanzler Hindenburg mit der Bitte, Hitler die Macht zu übertragen.

 

 

Die deutsche Wirtschaft, allen voran Chemie- und Rüstungsindustrie und Banken waren schließlich die Gewinner von „Arisierung“, Krieg und der Ausbeutung von KZ-Häftlingen und Zwangsarbeiter_innen. Diese Gewinne bildeten die Grundlage des „Wirtschaftswunders“ in der Bundesrepublik, während die Opfer um jede Mark Entschädigung kämpfen mussten und bis heute kämpfen müssen.

 

 

Ich erinnere daran, wie lange die Deutsche Bahn von einer moralischen Schuld sprach, sich aber vehement gegen eine Entschädigung der Opfer des Völkermordes wehrte, an dem die Bahn mit ihrer Logistik wesentlich beteiligt war. Als endlich nach dem Erinnerungs-Vorbild der französischen Staatsbahn SNCF der „Zug der Erinnerung“ auf deutschen Bahnhöfen hielt und an das System der Vernichtung erinnerte, dauerte es nicht lange, dass die Bahn für eine Fortführung des Projektes als Miete für die Waggons des Erinnerungszuges Geld forderte. Mit Empörung verurteilte die Auschwitzüberlebende Esther Bejerano seinerzeit diesen erneuten Versuch, die Opfer für Ihre Leiden zur Kasse zu bitten.     In nahezu allen ehemals von Nazi-Deutschland besetzten Ländern wurden der 8. und/oder 9. Mai gesetzliche Feiertage, auch im Osten Deutschlands. Genau 40 Jahre hat es gedauert, bis ein Präsident der Bundesrepublik an einem 8. Mai von Befreiung gesprochen hat. Bis dahin hatte die Sicht der Nazis, der Deutsch-Nationalen, der Profiteure und Mitläufer das offizielle Vokabular geprägt – Zusammenbruch, Kapitulation und Besatzung. Mit Richard von Weizsäckers Rede wurde die Perspektive der Verfolgten des Nazi-Regimes „gesellschaftsfähig“. Damit das so bleibt, fordern wir, dass der 8. Mai als Tag der Befreiung von Faschismus und Krieg endlich auch in Deutschland ein gesetzlicher Feiertag wird. Unterstützen Sie deshalb bitte die Petition der „Initiative der Freunde der Völker Russlands“ auf der Homepage des Deutschen Bundestages für die Erklärung des 8. Mai zu einem deutschen Feiertag!

 

 

Wir müssen feststellen, dass in diesen Tagen in vielen regionalen Zeitungen häufig wieder vom Kriegsende die Rede ist, und das der Fokus auf die vom Krieg verursachte Not der Deutschen und die Übergriffe auf Deutsche nicht selten die Verbrechen der Nazis und die Ursachen des Nazi-Regimes verdecken. Das zeigt, dass die weltweit gelobte deutsche Erinnerungskultur im kritischen Umgang mit der Nazi-Geschichte doch noch nicht überall in Deutschland angekommen ist.     Ich erinnere heute auch daran, dass sich im Vorfeld der Nazi-Diktatur auch in den meisten demokratischen Parteien der Weimarer Republik Nationalismus breit gemacht hat. Fast alle Parteien waren antisemitisch beeinflusst und öffneten den Nazis damit die Tür für ihre Rasseideologie. Aus der Geschichte lernen heißt deshalb, nicht nur an die Opfer des Faschismus zu erinnern, sondern neuem Nationalismus und Rassismus in ganz Europa entschieden entgegenzutreten.

 

 

Wir wissen, dass die Früchte des 8. Mai stets gefährdet sind. Rassismus, Chauvinismus, Antisemitismus und Antiziganismus, Islamfeindlichkeit sind auf dem Vormarsch. Alle möglichen Ideologien zur Begründung sozialer Ungleichheit und gesellschaftlicher Ausgrenzung haben Konjunktur. Wir wissen auch, dass die soziale Spaltung der Gesellschaft ein Ausmaß erreicht hat, in dem die Angst vor dem Abstieg Anpassungsdruck und Ausgrenzungsbereitschaft erhöht. Neben der faschistischen NPD finden in Deutschland Rechtspopulisten der PEGIDA und AfD zunehmend in Teilen der Bevölkerung Gehör, wie wir mit Erschrecken auf den Straßen Deutschlands feststellen müssen. Diese Versuche, die europäische Ordnung durch neuen Nationalismus zu begraben, erfordern unser aller Widerspruch und unseren Widerstand. Der rasante Aufstieg neofaschistischer und rechtspopulistischer Kräfte in nahezu allen europäischen Ländern verlangt entschiedene Gegenwehr.

 

 

Wir sehen mit Sorge, wie unbarmherzig unsere Gesellschaft Flüchtlingen gegenübertritt und gewaltsamen Übergriffen auf Ausländer und Migranten noch immer zu wenig entschlossen begegnet. Eine Lehre aus der Geschichte muss es sein, Asylsuchende in der Not nicht wieder abzuweisen und damit nicht wieder deren Tod in Kauf zu nehmen. Wir brauchen mehr Empathie für Menschen, die auf der Flucht sind vor Krieg und Not. Wir brauchen aber auch eine neue Weltwirtschaftsordnung, damit die Menschen in den Herkunftsländern der Flüchtlinge eine menschenwürdige Lebensperspektive erhalten.

 

 

Es soll nie wieder Krieg von deutschem Boden ausgehen. Das war die wichtigste Lehre aus der jüngeren deutschen Geschichte. Jahrzehntelang wurde dieser europäische Konsens auch in Deutschland anerkannt. Die Teilnahme Deutschlands an neuen Kriegen, wie im ehemaligen Jugoslawien oder in Afghanistan stellt einen eklatanten Bruch mit diesem Nachkriegskonsens dar. Es zeigte sich, dass ein angeblich drohender Völkermord im ehemaligen Jugoslawien eine willkommene Lüge war, mit der die NATO-Intervention begründet wurde. Auch im Afghanistan-Konflikt war bald von der “Verteidigung Deutschlands am Hindukusch“ die Rede. In vielen Ländern der Welt, im Irak, in Syrien, in der Ukraine und in weiten Teilen Afrikas toben neue Kriege. Wieder sind deutsche Waffen – und oft auch deutsches Militär – beteiligt. Die Bereitschaft, „deutsche Interessen“ erneut mit militärischen Mitteln durchzusetzen ist gegen den Willen der Mehrheit der Bevölkerung in Regierung und Bundestag wieder politische Praxis geworden.

 

 

Gerade darum wollen wir den Tag der Befreiung zum Feiertag machen – den Tag, mit dem die Überlebenden Opfer des Naziregimes so viel Hoffnung auf eine Welt in Frieden und Freiheit verknüpft hatten, wie es im Schwur der Buchenwaldhäftlinge heißt. Wir wollen am 8. Mai vor allem an diese Hoffnung der Befreiten auf eine Welt ohne Kriege, Elend und Unterdrückung erinnern. Denn der Schwur der Buchenwaldhäftlinge ist nicht eingelöst, auch wenn SS-Schergen endlich von deutschen Gerichten nicht mehr geschützt, sondern zur Verantwortung gezogen werden.     Eine Welt des Friedens und der Freiheit gilt es noch einzulösen, so lange der erzielte Wohlstand der Menschen im reichen Europa noch durch Krieg und Armut in anderen Teilen der Welt erkauft wird. In diesem Sinne rufen wir auf: Nie wieder Faschismus – nie wieder Krieg!