Gerhard Leo ist tot

11. November 2009

Von Gerhard Leo nahmen auf einer Trauerfeier am 8. Oktober seine Familie, Verwandte und Freunde Abschied. Er war am 14. September in Berlin im Alter von 86 Jahren verstorben.

In einer jüdischen Familie aufgewachsen, musste Gerhard Leo 1933 mit seinen Eltern und seiner Schwester aus Deutschland fliehen. Frankreich, das Exilland, wurde ihm zur Heimat. Als er 1943 mit gefälschten Papieren bei deutschen Dienststellen arbeitete, gab er wichtige Informationen an die französische Résistance weiter. Nachdem er 1944 verraten und verhaftet worden war, befreiten ihn Partisanen aus dem Zug, der ihn zum Kriegsgericht in Paris bringen sollte. Sie retteten ihm das Leben. Bis zur Befreiung kämpfte er in den Reihen der Résistance in der Corrèze, im Zentralmassiv.

1945 kehrte er in das Ruhrgebiet zurück, um dort bei einem antifaschistisch demokratischen Neubeginn mitzuwirken. Wegen der restaurativen Entwicklung in Westdeutschland übersiedelte er 1954 mit seiner Familie in die DDR. In Berlin war er für die Zeitung „Neues Deutschland“ tätig und deren langjähriger Korrespondent in Frankreich. Seit Ende der achtziger Jahre arbeitete er als Schriftsteller und Übersetzer. Seine Autobiographie „Frühzug nach Toulouse – Ein Deutscher in der französischen Résistance 1942-1944“ erschien 1988. In Anerkennung seiner Verdienste ernannte der Präsident der französischen Republik, Jaques Chirac, am 17. Februar 2004 Gerhard Leo zum Chevalier de la Légion d’honneur, zum Ritter der Ehrenlegion.

Gerhard war ein Zeitzeuge von besonderen Ausstrahlung. Für Franzosen war es ein Vergnügen, ihm zuzuhören, wie er in akzentfreien Französisch selbst in Nuancen die richtigen Worte und damit den Ton fand, der sie in seinen Bann zog. Die Köpfe und Herzen der Zuhörer erreichte er, weil er Geschichte nicht nur erzählen, sondern auch darüber reflektieren konnte, eigene Beweggründe, Konflikte und selbst Hemmungen schilderte. Sachkundig, manchmal verschmitzt lächelnd, nachdenklich und bescheiden erzählte er über die schwierige Emigration, über seinen Weg in den Widerstand, über deutsche und französische Mitstreiter, über die ihn das ganze Leben nicht loslassende Gemeinschaft von Gleichgesinnten. Aufmerksam und offen für die Fragen der Zuhörer, aktuelle Debatten einbeziehend, blieb er bis ins hohe Alter lernfähig.

Die Diskussionen zu den Ursachen des Zusammenbruchs des Sozialismus und die Frage, ob und welche Perspektiven der Antifaschismus in den gesellschaftlichen Veränderungen hat, führten uns 1990 enger zusammen. Eine neue antifaschistische Bewegung sollte Verengungen und Erstarrungen aus DDR-Zeiten aufbrechen und sich über Parteigrenzen und Meinungsverschiedenheiten hinweg für breite Bündnisse gegen Rassismus, Antisemitismus und Neofaschismus im vereinten Deutschland öffnen. Gerhard arbeitete aktiv im Bund der Antifaschisten mit, ging auf Jüngere zu, bestärkte sie, auch bei Schwierigkeiten nicht aufzugeben. In seinem vielfältigen Engagement spiegelten sich Erfahrungen seines Lebens. Zehn Jahre arbeitete er in der Initiative gegen Abschiebehaft mit. „Papa Leo“, so nannten ihn die von Ausweisung bedrohten Flüchtlinge in der Abschiebehaft Köpenick, half ihnen mit Rat und Tat. Bei Anhörungen und Diskussionen vertrat er entschieden ihre Interessen und forderte, auch eingedenk seiner Erfahrungen als Emigrant, ihre menschenwürdige Behandlung und ihr Recht auf Asyl in Deutschland und in Europa.

Der gemeinsame Kampf deutscher Antifaschisten und französischer Patrioten gehörte für ihn zu den bewahrenden Traditionen deutsch-französischer Freundschaft. Zugleich wollte er an die in der deutschen Öffentlichkeit kaum bekannten Verbrechen von Wehrmacht, SS und Gestapo im besetzten Frankreich erinnern. Deshalb übersetzte er das Tagebuch von Denise Bardet, es war seine letzte Veröffentlichung. Die Deutsch-Lehrerin in Oradour-sur-Glane wurde am 10. Juni 1944 gemeinsam mit ihren Schülern von Angehörigen der SS-Division „Das Reich“ ermordet. Zum 60. Jahrestag des Massakers führte ihn eine letzte Reise mit deutschen Jugendlichen und seinem Mitstreiter Ernst Melis nach Tulle und Oradour-sur-Glane. Und er zeigte den Jungen die Corrèze, dort, wo er nach seiner Befreiung in den Reihen des Maquis gekämpft hatte. Es war eine für alle bewegende Reise.

Eine Teilnehmerin schrieb danach: „Ich verdanke Gerhard und Ernst die Erkenntnis, dass es zu jeder Zeit möglich ist, sich gegen Verbrechen und Unrecht zu wehren. Während dieser Reise haben sie mich gelehrt, dass es in unserer eigenen Verantwortung liegt, trotz aller Ängste und Zwänge, Menschlichkeit auch in einer unmenschlichen Zeit zu leben. Dass man gegen den Strom schwimmen kann. Dass Zivilcourage möglich ist. Dass man trotz Brutalitäten, Leid und Entbehrungen nicht verbittern muss. Und wenn Zeitzeugen wie diese beiden einmal nicht mehr berichten können, werden wir es unseren Kindern weitererzählen, damit diese Zeit der Unmenschlichkeit niemals vergessen wird. Und damit so etwas Schreckliches nie wieder geschehen kann.“

Sein Vermächtnis, die Erinnerung an den europäischen Widerstand gegen die Nazibarbarei wachzuhalten und in einem breiten Bündnis für eine Welt des Friedens und der Freiheit einzutreten, bleibt eine große Herausforderung.